Diese Tour sollte etwas
Besonderes werden, man kann sagen, in einem negativem Sinne wurde sie
es. Zum ersten Mal war ich mit einer grösseren Gruppe Biker als Guide
unterwegs in den Alpen. Wir waren sieben Motorräder, eine Transe,
zwei Duc, zwei XJ, eine K 100 und meine Wenigkeit mit einer GPZ 550. Bis
auf zwei Bikes waren alle mit Sozia/Sozius bestückt, also eine recht
grosse Gruppe freute sich auf eine schöne Alpentour, einige der schönsten
Pässe standen auf dem Programm. Zwei Kollegen, die noch Dienst hatten,
wollten Tags darauf in den Alpen am Gotthard zur Gruppe stossen.
Der Wetterbericht sagte für das Wochenende leider
verhangenen Himmel und gelegentlichen Regen in den Alpen voraus. Wir beschlossen,
dennoch zu fahren.
Am Nachmittag des 23.09.93 starteten wir von unserem Treffpunkt an der
A 81 in Herrenberg gen Süden. Mit unseren Maschinen war ein zügiges
Vorankommen kein Problem und bald überquerten wir in Konstanz die
Grenze zur Schweiz. Hier begann leichter Nieselregen, der allerdings noch
wenig störend war. Über Wil, Watwil erreichten wir nach Querung
des Satteleggs, wo bereits Dauerregen herrschte, Schwyz und quartierten
uns in ein kleines Hotel im Stadtzentrum ein. Ein lustiger Abend folgte.
Am nächsten Morgen, in aller Herrgottsfrühe standen wir auf,
begann ein trüber Tag. Die Stimmung war trotzdem hervorragend, wir
freuten uns auf die Alpen. In leichtem Niesel ging es entlang des Vierwaldstättersees
über Brunnen und die Axenstrasse Richtung Gotthard. Nachdem wir noch
kurz telefoniert hatten (im Vor-Handy-Zeitalter), war der Treffpunkt mit
den geplant Nachreisenden, die von Deutschland aus starteten, festgemacht.
Der Regen verschärfte sich, ein Dauerregen hatte eingesetzt und blieb
konstant. Kalt war es ausserdem. Am Urnerloch unterhalb von Andermatt
schäumte die Reuss bereits in ihrem Bett, wie ich es vorher noch
nie gesehen hatte: Bis zur Brücke spritzte die Gischt herauf. Nach
einer kleinen Pause in Andermatt folgte der Aufstieg zum Oberalppass,
Nebel, heftiger Regen und Kälte. Disentis und Lukmanierpass, nichts
als Regen. Nicht einmal in Biasca war ein Entkommen aus der triefenden
Nässe möglich. Wir beschlossen bei einem wärmenden Kaffee,
den Wetterbericht genauer zu analysieren, um ggf. in den Süden zu
entweichen. Aber: Kein Entrinnen, bis zum Mittelmeer nichts als Regen.
So wurde die schnelle Einkehr ins Quartier im Oberwallis beschlossen und
die ursprüngliche Route über Locarno - Centovalli - Simplon
- Brig über Bord geworfen. Gott sei Dank, wie es sich später
herausstellte!
Es folgte jetzt ein ziemliches Gestochere im Nebel entlang des Ticino
zurück nach Norden. Über den Nufenen sollte es ins Wallis gehen.
Im Nebel brauchten wir unendlich lange für die recht kurze Strecke
und in Airolo trafen wir auf eine deprimierende Beschilderung: Nufenen
geschlossen. Na, wahrscheinlich liegt dort oben Schnee, so dachten wir,
das ist ja nichts Aussergewöhnliches zu dieser Jahreszeit. Aussergewöhnlich
waren allerdings die Fontänen der zahlreichen Wasserfälle links
und rechts der Strasse, die wir beobachten konnten. Überhaupt: Wo
das Auge auch hin blickte, nichts als Wasser. Wir waren triefnass, alles
durchweicht, die Regenkombis nützten nur noch marginal. Eine Vignette
hatte keiner von uns und der Gotthardpass war noch offen, wir beschlossen
trotzdem den Tunnel zu fahren. Welche Labsal, stinkend, verrusst, aber
warm. Teilweise abgetrocknet erreichten wir erneut Göschenen und
Andermatt, hier rann das Wasser über Felsen und Wege, die Reuss tobte
in ihrer Schlucht. Langsam dämmerte es uns, dass da eine kleine Katastrophe
im Gange war. Dass es eine Grosse war, ahnten wir immer noch nicht.
Auf dem Weg zum Furkapass genügten wenige Kilometer und wir waren
erneut pudelnass. Im Urserental trat die Reuss über die Ufer. Plötzlich
musste ich bremsen: Mitten in der Strasse hatte sich ein Loch aufgetan
und Wasser sprudelte durch den Belag nach oben heraus. Weiter oberhalb
in Realp, fuhrwerkte ein Polizist mit einem Schild herum: Der Furkapass
wurde soeben geschlossen, eine Passage war uns daher nicht mehr möglich.
Im Bahnhof von Realp stand aber ein Zug der FO, der Autoverlad war also
noch in Betrieb. Wir verteilten uns auf zwei Züge und erreichten
wohlbehalten Oberwald im Goms. Hinter uns wurde nun auch der Zugverkehr
eingestellt, die Strecken nach Andermatt auf Strasse und Schiene geschlossen,
da die Reuss das Gleisbett, Strasse und Brücken unterspült und
fortgerissen hatte. Das wussten wir aber noch nicht. Genau so wenig konnten
wir ahnen, dass unserer Nachzügler, die immerhin im Dauerregen noch
bis Göschenen kamen, dort nun festsassen.
So fuhren wir weiter durch Regen im Goms bis Fiesch. Hier tauchte am Ortsrand
eine Strassensperre auf und ein Beamter der Kantonspolizei forderte uns
umgehend zur Einkehr in Fiesch auf, alle Strassen seien von hier ab gesperrt
worden. Auf mein Nachfragen erklärte er recht fassungslos, dass die
Stadt Brig soeben untergegangen sei, der Ausnahmezustand sei verhängt
worden, wie viele Opfer es gegeben habe, sei ihm nicht bekannt. Nach einer
kurzen Erklärung, dass wir nur noch wenige Meter zu fahren hätten
und in ein benachbartes Dorf wollten, liess er uns durchfahren. Wir überquerten
die ungewöhnlich tobende Rh™ne auf der offensichtlich standhaften
Brücke und waren Minuten später im Quartier am warmen Kachelofen.
Endlich trocken, ein Gefühl, das wir schon nicht mehr zu kennen glaubten.
Im Radio verfolgten wir die Geschehnisse und begriffen erst langsam, dass
wir durch die Abwandlung der Route in Biasca wahrscheinlich unser Leben
gerettet hatten.
Nach drei Tagen wurde der Verbindungsweg via Oberwald wieder freigeschafft,
von Menschen, die nicht selten ihr eigenes Leben riskierten. Im nachlassenden
Niesel fuhren wir zurück nach Stuttgart, eine Tour, die uns unvergesslich
bleiben wird.
PS: Unsere ursprünglich geplante Route gab es
nicht mehr. An der Südflanke des Simplon war die Strasse weggerissen,
Brücken waren einfach weggespült worden. Im Tessin waren Felsstürze,
Murengänge und Überflutungen zu verzeichnen, Strassen waren
weithin unpassierbar. Das gesamte Wallis und weite Teile der Alpen wurden
Katastrophengebiet. Besonders hatte es aber Brig getroffen, das kleine,
wohlhabende und schmucke oberwalliser Städtchen ging innerhalb von
Minuten in Schutt und Schlamm unter...
|