New York 1948New York und ich - Eindrücke einer ReiseNicht Größenwahn, sondern die liebe Not der Selbstbehauptung hat mir diese Überschrift eingegeben. Die Angst, im Labyrinth der Riesenstadt einfach verlorenzugehen, ruft alle Kräfte des IchBewußtseins auf den Plan. Ich war kein Einwanderer, wollte nicht eingeschmolzen werden, um den Termitenbau von annähernd 8 Millionen New Yorkern um eine weitere Termite zu vermehren. New York hat tausend Gesichter - hier ist nur von dem die Rede, das ich gesehen und erlebt habe. Der unterirdischen Welt der Subway mit ihrem Gedröhn, ihrer stickig heißen Luft, ihrer Lichtverschwendung, ihren bunten Reklameplakaten und nicht weniger farbenfreudigen Passagieren entstiegen wir durch einen Treppenschacht irgendwo am Times Square, am ersten Vormittag gegen halb elf. Es war ein Hinausgeworfenwerden aus der Geborgenheit gewohnter Maße und Größen in ein wogendes Meer von Sonnenlicht und blauen Schatten, von Lärm, Menschen und Autos, über dem ein Geruch von Benzin und brotzelndem Fett lag. Den ersten Blick zog es nach oben. Erst als uns das Genick starr wurde und die Augen schmerzten von dem intensiven Blau, in dem die Wolkenkratzer mit ihren dünnen weißen Dampffahnen sich silbergrau und rosarot verloren, gaben wir es auf, die Fensterreihen zu zahlen. Im übrigen beachtete uns kein Mensch, obwohl wir ein Verkehrshindernis bildeten und uns das Staunen mit Kapitalbuchstaben im Gesicht geschrieben stand. Warum sollten sie auch? New York sieht täglich mehr als 100 000 Besucher von auswärts. Man müßte schon als ameisengroßes Pünktchen an der wabengleichen Wand eines dieser Bauriesen vor dem 60. oder 70. Stockwerk schweben wie jener Fensterputzer, um hier flüchtige Aufmerksamkeit zu erregen. Erst allmählich lernten unsere Augen Einzelheiten sehen: weiße, schwarze und braune Gesichter, Zeitungsstande und die zitternden Rudel der Autos, die vor dem roten Licht stoppten und wie auf einen Startschuß hin losrasten, wenn das grüne anging. Und vor allem die Überfülle der Waren in den Schaufenstern der Geschäfte, deren endlose Reihen durch nickelglänzende Restaurants und Cafeterias mit romanlangen Speisekarten unterbrochen wurde. Man spricht gemeinhin von New York, und meint Manhattan. Von den fünf Stadtbezirken Bronx, Brooklyn, Manhattan, Queens und Richmond, die zusammen die Achtmillionenstadt mit einer Gesamtflache von 590 Quadratkilometer ausmachen, ist Manhattan mit seinen 1,9 Millionen Bewohnern auf 50 Quadratkilometer weder der größte noch der volkreichste. Aber es ist New Yorks Geschäfts- und Unterhaltungszentrum. Im Westen begrenzt vom Hudson mit den Piers und Ladehallen aller großen Schiffahrtslinien, im Osten vom East River, dessen Anlegeplatze vor allem der Frachtschiffahrt dienen, erstreckt es sich als schmale Halbinsel von Haarlem River im Norden, der es eigentlich zu einer Insel macht, bis hinab zur "Battery", der Südspitze an der Bucht. Manhattans größte Länge mißt 20 Kilometer, seine breiteste Stelle nur 4 Kilometer. Der Zwang und die Vorteile dieser Lage haben der Stadt das Gesicht gegeben: der begrenzte Raum zwang sie, in die Höhe zu wachsen, die fast unbegrenzten Anlegemöglichkeiten machten sie zum verkehrsreichsten Hafen, zum rührigsten Umschlageplatz des Kontinents. 3-4644/2' 34 New York und ich - Eindrücke einer Reise Abgesehen von der Südspitze mit der ältesten Siedlung, deren Straßen und Gassen zum größten Teil unregelmäßig und gebrochen verlaufen und Namen tragen, ist Manhattan von der 14. Straße an völlig rational angelegt. Die ostwestlichen Querstraßen haben Nummern; die höchste ist die der 242. Straße an der nördlichen Stadtgrenze. Sie schneiden die von Süden nach Norden ziehenden breiteren Avenues (teils numeriert, teils benamst) im rechten Winkel. Nur der Broadway, als "einzige Irrationale", wie Kollege Sternberger es ausdrückte, erlaubt sich die Besonderheit, sich von der Südspitze bis in den hohen Norden schräg hindurchzuschlängeln. "Fifth Avenue", etwa in der Mittelachse der Halbinsel, teilt diese in Ost und West; von ihr aus zahlt man die Hausnummern, jeweils mit Eins beginnend, nach beiden Richtungen. Eine New Yorker Adresse sieht aus wie eine algebraische Formel: 247 W 56th St. Nichts einfacher demnach, als sich in Manhattan zurechtzufinden ? Schon recht, aber bei einem so mangelhaften Sinn für Zahlen, wie ich ihn besitze, wird die Sache eher kompliziert. Nachdem ich etliche Male 45. und 54., 69. und 96. verwechselt und die Himmelsrichtungen durcheinandergebracht hatte, und als auch das Studium des Stadtplanes ohne Kenntnis der Himmelsrichtung nicht weiterhalf - abgesehen davon, daß es einer Absperrkette von Schutzleuten bedurft hätte, den meterlangen Plan im Verkehrsgewühl zu entfalten -, stand ich vor der Wahl, entweder einen Kompaß zu kaufen oder mir die Topographie New Yorks von der Spitze eines Wolkenkratzers aus einzuprägen. Zwei Freunde fuhren mit mir auf das RCA Building des Rockefeller Centers; es ging bis zum 60. Stock "per Expreß" - in einer halben Minute! - und von dort aus vollends hinauf zum 70. mit einem "Local". Auch die Aufzüge haben, wie man sieht, ihre Schnell- und Bummelzüge und ihre Umsteigebahnhofe. Mit dem Wetter hatten wir es getroffen: im Licht eines sonnigen, sichtigen Septembertages lag sie 200 Meter tief unter uns, die grenzenlose Stadt, von der nur Manhattan überschaubar war. Jenseits des East Rivers verschwamm das steinerne Meer Brooklyns und Queens' im silbergrauen Dunst des Horizonts, im Norden taten Haarlem und die Bronx desgleichen. Im Süden glitzerte die offene Bucht mit den flachen Inseln, auf deren einer die Freiheitsstatue hinter der "Skyline" der Battery sich ausnahm wie ein zierliches Tintenzeug. Einen lockenden, man mochte sagen natürlichen Akzent brachten die steilen, grün bewachsenen Ufer New Jerseys jenseits des geschäftigen, rheinbreiten Hudson in das kubistische Bild mit seinen scharfkantigen, vielfenstrigen Türmen aus Stahl und Zement, aus braunen und gelben Quadern, deren Hohe die tiefen vertikalen Schatten betonten. Oben, links von dem grünen Rechteck des Zentralparks mit den Spiegeln seiner Seen, schwang sich das Filigrangespinst der Washington Bridge von Ufer zu Ufer. Das Filigrangespinst ist über. einen Kilometer lang und seine Hängetaue sind mannsdick. Und immer wieder ging der unersättliche Blick hinüber zu dem auf uns noch sehr von oben herabsehenden Nachbarriesen, dem Empire State und dem Chrysler Building. Es ist eine Aussicht, wie sie die Welt sonst nirgends bietet. New York hat von allen Großstädten der Welt die höchsten Gebäude, den geschäftigsten Hafen, die längsten Straßen, die meisten Autos, die weitläufigste Untergrundbahn und das größte Theater. Selbstverstandlich erscheint dort auch die gewichtigste Sonntagsausgabe aller Zeitungen. Es ist die "New York Times"; sie hat bei einer Auflage von über einer Million 100 bis 170 Seiten und zwei Magazine als Beilagen und wiegt gut ihre zwei Pfund. Da mir mein Kopfkissen zu nieder war, legte ich sie als Keil darunter und schlief von da an ausgezeichnet. Übrigens lernte ich eines Samstagabends am Times Square, wie man mit so einem Zeitungsbuch fertig wird: ein Herr neben mir kaufte sie, weidete sie gleich an Ort und Stelle aus und warf alle Innereien, auf die er keinen Appetit hatte, weg. Der Rest mochte immer noch ein Pfund schwer sein. Was Wunder also, daß ich am Broadway in einem Tabakgeschäft "die größte Zigarre der Welt" entdeckte 40 Zentimeter lang ("You can't elsewhere get it!") - und einige hundert Meter weiter im Schaufenster eines Autohändlers einen nickelneuen Wagen mit dem Schild: "The Newest New Car!" Aber solcher Ruhm hat seine Schattenseiten. Zum Beispiel "der stärkste Verkehr". Ich hatte eine Verabredung und war aufgehalten worden. Also mußte man halt einen Dollar für eine Taxifahrt opfern; mit der Subway, das wußte ich, würde ich, selbst wenn ich Glück hatte, mindestens eine Viertelstunde zu -spat kommen. Und ich kam mit meinem Taxi - um den zehnfachen Betrag - drei Viertelstunden zu spät. Dabei war der Chauffeur gefahren wie ein verhinderter Carracciola (so fahren sie alle), hatte links und rechts überholt (das darf man) und mich mit seiner Fahrkunst richtig in Stimmung gebracht, noch geschwind den Text meiner Todesanzeige (für die "Stuttgarter Zeitung") zu entwerfen. Aber das rote Licht an der Straßenkreuzung mußte er respektieren, und, wie viele Straßenkreuzungen gibt es in New York! Die Menge der Autos, drei und vier nebeneinander in beiden Richtungen in nicht abreißender Kette, bewirkt Verstopfung in den Straßendärmen. Dies und der Mangel an Parkplatzen veranlaßt viele draußen vor der Stadt wohnende Autobesitzer, bei ihren täglichen Fahrten ins Geschäft ihren Wagen am Stadtrand zu parken und den Rest in der Subway zurückzulegen. Nur hat auch das Subwayfahren seine Haken, wenigstens in den "rush hours" morgens zwischen acht und neun und abends zwischen fünf und sechs. Aus purem Übermut hab ich's einmal ausprobiert. Nur zwanzig Minuten lang - eine Stunde Fahrzeit für den Weg vom und ins Büro ist jedoch nichts Außergewöhnliches - stand ich, eine kostbare Pralinenschachtel in hoch erhobener Hand, eingeklemmt zwischen einem Neger, dessen malmendes Gebiß mit jeder Kaubewegung meiner Nase naher kam, einer braunen Strickweste, die einem Heringshändler gehören mußte, und irgendwelchen irgendwem gehörenden Weichteilen auf einem eigenen und einem fremden Fuß in der Stellung des Laokoon. Von der Luft in dieser rollenden Sardinenbüchse, vom Geschiebe und Geschobenwerden beim Ein- und Aussteigen und von den Püffen schweige ich. Ich habe das einmal mitgemacht, Hunderttausende von New Yorkern machen es jahraus, jahrein zweimal am Tage mit - so beginnt, so endet ihre Arbeit. New York ist nicht Amerika, sagen einem die Amerikaner. Nein, New York ist eine Welt für sich und ein Beispiel dafür, daß sich die Angehörigen aller Nationen und Rassen friedlich miteinander vertragen können, wenn man sie nur läßt. Ob es wirklich ein Schmelztiegel ist, wie so oft gesagt wird? Der flüchtigen Beobachtung nach nicht. Die Abkömmlinge der verschiedenen Volker und Rassen, die sich alle mit Stolz Amerikaner nennen, scheinen eher nebeneinander zu leben als sich zu verschmelzen. Man kann deshalb in New York an einem einzigen Tag eine Weltreise machen. In Chinatown bei der Canal Street mit seinen 6000 Chinesen, die nur ein Achtel aller in Groß-New York lebenden Himmelssohne ausmachen, mit den chinesischen Schriftzeichen über den Geschäften und Restaurants und mit dem unverständlichen Gezwitscher auf den belebten Straßen glaubt man sich nach Schanghai versetzt, und wer die Illusion noch weiter treiben will, kann in einem Tempel der Mott Street vor einem Riesenbuddha Raucherkerzen abbrennen. Ein Katzensprung, und man ist in Klein-Italien mit allem, was dazu gehört: Flatternde Wasche, schwarze Krauskopfe, Frutterias, Santa Lucia, Makkaroni, Gorgonzola und fette Katzen, plus dem Geruch von alledem. Nicht weit davon liegt ein jüdisches Viertel mit koscheren Restaurants, Althandlungen, Synagogen, hebräischen Schriftzeichen, Zeitungen 'in Jiddisch und lebhaft gestikulierenden bärtigen Männern. Griechen, Spanier, Iren, Russen, Puerto-Ricaner, sie alle wohnen in ihren besonderen Vierteln, sprechen ihre Muttersprache, kochen ihre Nationalgerichte und beten nach ihrer Façon zum lieben Gott, ohne daß die einen von ihrer Vorliebe für Zwiebeln zur Erbfeindschaft aufgestachelt würden gegen die Liebhaber von Haifischflossen oder gegen die Biertrinker oder gegen die Whiskyfreunde und umgekehrt. Das bekannteste dieser Viertel ist wohl Haarlem, eine reine Negerstadt, nördlich des Central Parks. Annähernd eine halbe Million Neger aller Schattierungen lebt in New York, der größte Teil davon in Haarlem. Man findet Neger in allen Berufen, sieht sie auf allen Verkehrsmitteln und trifft sie als gleichgeachtete Gäste in Cafeterias, Restaurants und Kinos. Fehlgefahren landete ich einmal nachts um zwei mitten im Vergnügungsrummel Haarlems; unter all den vielen Gesichtern um uns her war meines das einzige helle. Und es war ein schwarzer Gentleman, der mir abriet, den verhältnismaßig kurzen Weg durch den Morningside Park zur Columbia-Universität zu Fuß zu gehen. Als ich später den Redakteur einer der besten Zeitungen für "colored people" - er sah aus wie Onkel Tom selbst und besaß die Weisheit eines Salomo - fragte, ob jener Gentleman mir recht geraten habe, sagt er: Ja, es gebe noch mehr Gegenden, rein weiße, in New York, die man bei Nacht allein besser nicht durchquere; mit der Hautfarbe habe dies nichts zu tun. Probleme dieser Art wirft Yorkville nicht auf. Es ist die Gegend um die 86. Straße East, die "der deutsche Broadway" genannt wird. Die Lokale tragen Namen wie "Lorelei", "Bayrisches Bierhaus", "Rheinland", "Schweizer Haus", "Cafe Geiger" usw. Auch ein "Cafe Hindenburg" gibt es. Auf der Straße hart man fast nur, und in den Lokalen ausschließlich Deutsch. Sofern man überhaupt etwas hart in dem Schwall von Musik, Lachen und Gesang. Überoberbayrisch, wie in München nicht, als das Märzenbier noch 15 Prozent Stammwürze hatte, ging's im "Bayrischen Bierhaus" zu. Die Kellner und Musikanten trugen Krachlederne, weiße Stutzen und einen Rasierpinsel auf dem Hüaterl. Und sprachen köllsches Platt. Aber das Bier und die Bockwurst mit Sauerkraut schmeckten wunderbar. Auch im "Rheinland" und in der "Lorelei" feierte das Deutschland von 1911 fröhliche Auferstehung - oder ist es hier überhaupt nicht gestorben? Die deutsche Gemütlichkeit scheint hier, am deutschen Broadway, ihr letztes Asyl gefunden zu haben. Und die Zeit scheint stillzustehen. In New York. Josef Eberle, Stuttgarter Zeitung Nr. 112, 1948. Quelle: "Die Westfeste" KLETTS ERDKUNDLICHE QUELLENHEFTE, Heft 4, bearbeitet von K. Mayer und Dr. A Klein, 4644, Stuttgart lxiii, Der Zauberlehrling - Johann Wolfgang Goethe |