Moritz Leuenberger - Der Bussprediger
Von Urs Paul Engeler und Markus Somm
Die Klima-Initiative von Umweltminister Moritz Leuenberger stösst auf Widerspruch. Dem Bundesrat schwebt eine Rückkehr zur "2000-Watt-Gesellschaft" vor. Die eigene Behörde ist skeptisch.
Illustration: Alfons Kiefer
Umweltminister Moritz Leuenberger hat vergangene Woche eines der radikalsten CO2-Senkungs-Programme des Westens vorgestellt. Mit einer CO2-Abgabe auf Treibstoffen, was einer Erhöhung des Benzinpreises um 50 Rappen pro Liter entspricht, möchte der SP-Bundesrat die Treibhausgas-Emissionen jährlich um 1,5 Prozent zurückfahren - bis auf weiteres. Im Jahr 2020 würde die Schweiz 21 Prozent weniger Treibhausgase ausstossen als 1990. 2050 wären es gar halb so viel.
Leuenbergers Vorstoss ist widersprüchlich. Noch im Mai dieses Jahres, so hat die Weltwoche aus guter Quelle erfahren, haben die Vertreter des Uvek selbst an einer Zwischenkonferenz der Kioto-Vertrags-Staaten in Bonn eine solch ehrgeizige Reduktion als sehr schwierig bezeichnet. Die Schweizer Umweltdiplomaten sprachen von "major challenges", welche die Schweiz zu überwinden hätte, weil "die CO2-Emissionen der Schweiz pro Kopf und pro BIP (Bruttoinlandprodukt) bereits heute zu den niedrigsten in der OECD (weniger als halb so hoch wie der OECD-Durchschnitt) gehörten". Ausserdem seien weitere Senkungen im Inland mehr als zehn Mal teurer als im Ausland. Mit anderen Worten, statt den Ausstoss in der Schweiz weiter zu reduzieren, wäre es laut Uvek sinnvoller, sogenannte Emissions-Zertifikate zu erwerben. Worunter man Folgendes versteht: Wenn ein Entwicklungsland statt eines schmutzigen Kohlekraftwerks ein modernes Gaskombikraftwerk baut, das weniger CO2 in die Luft bläst, kann es diese Differenz im internationalen Emissionshandel verkaufen - etwa an die Schweiz, die damit zur CO2-Reduktion beiträgt. Während das Entwicklungsland von neuer Technologie und sauberer Luft profitiert, gewinnt die Schweiz, weil es für sie billiger ist, im Ausland CO2 abzubauen als im Inland. In der Schweiz kostet es etwa 200 Franken, eine Tonne CO2 einzusparen, im Ausland dagegen bloss 20 Franken. Weil CO2 eine globale Erscheinung ist, spielt es keine Rolle, wer senkt.
wenige Monate nach diesem Positionsbezug in Bonn gilt für den Chef das alles nicht mehr. Leuenberger sieht jetzt kein Problem darin, den CO2-Ausstoss um sagenhafte 76 Prozent zurückzubinden (bis 2100), und vom Kauf von Emissions-Zertifikaten will er nichts wissen. Das Argument dafür, so sagte er laut NZZ an der Pressekonferenz, sei nicht "schlagend". Offenbar hat sich der Umweltminister in den Kopf gesetzt, partout eine Senkung anzustreben, koste es, was es wolle. Dabei hat die Schweiz schon viel getan, mehr oder weniger freiwillig hat die Wirtschaft in den vergangenen Jahren ihren CO2-Ausstoss deutlich abgebaut. Als eines der wenigen Industrieländer wird die Schweiz das Kioto-Reduktionsziel (minus 8 Prozent bis 2012) erreichen. Direkter staatlicher Zwang war bisher wenig angewandt worden, erst vor kurzem wurde eine erste CO2-Abgabe auf Brennstoffen beschlossen, die nächstes Jahr eingeführt wird. Doch nun möchte Leuenberger das Abgabensystem kräftig ausbauen.
Damit führt ausgerechnet EU-Anhänger Leuenberger die Schweiz ins klimapolitische Abseits: Michael Kohn, Energieexperte und Präsident der Klimakommission der Internationalen Handelskammer in Paris, bilanziert: "Der Klima-Strategie von Leuenberger mangelt es an Internationalität." Denn der Emissionshandel, wie ihn einzig die EU aufgezogen hat, dürfte sich nach Ansicht der Experten weltweit durchsetzen. Doch mit Lenkungsabgaben, sagt Urs Näf, Energie-Experte von Economiesuisse, dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft, gehe die Schweiz einen Sonderweg, der er es ihr verunmöglicht hat, am europäischen Emissionshandel teilzunehmen. Im Klartext: Ein von der Schweiz finanzierter Abbau des CO2 im Ausland, wie ihn die Leute vom UVEK selbst für effizienter halten, wird zusehends schwieriger.
Was ist in Leuenberger gefahren? Ohne Zweifel steht er unter starkem Druck der eigenen Partei: Die Grünen sitzen der SP im Nacken, und während Micheline Calmy-Rey eifrig Wahlkampf macht, hat Leuenberger bisher wenig geholfen. Mit einem ungewöhnlichen Bruch der Kollegialität liess Leuenberger die Kollegen im Bundesrat via Pressekonferenz wissen, was er an der auf Mitte September anberaumten Klima-Klausur vorschlagen wird.
Doch steckt mehr dahinter als Wahlkampf. Leuenberger, Sohn eines protestantischen Pfarrers, begreift die Klimapolitik als Mission - womöglich als seine letzte. Pragmatismus ist ihm fremd. Anders ist schwer zu erklären, warum er den Emissionshandel so skeptisch betrachtet. Obwohl mit dem gleichen Geld im Ausland mehr CO2 reduziert werden könnte, besteht er darauf, dass die Schweizer sich ändern. "Mein persönliches Idealziel ist die 2000-Watt-Gesellschaft", sagte Leuenberger der Mittellandzeitung. Heute verbraucht ein Schweizer rund 5000 Watt pro Jahr, 2000 Watt entspräche dem Konsum von 1960. Gemäss einer Art Klima-Kommunismus stünde weltweit jedem Menschen so viel Watt zu. Leuenberger möchte die Schweizer in die behaglichen Zeiten der sechziger Jahre katapultieren.
Bis dreifach höhere Energiepreise
Anfang Jahr hatte das Bundesamt für Energie unter dem Titel Energieperspektiven vier Varianten des künftigen Energieverbrauchs aufgezeigt. Das extremste Szenario (IV) ging davon aus, dass die Schweizer ihren Konsum auf 2000 Watt reduzieren, was eine Senkung des Energiekonsums von bis zu 60 Prozent erfordert. Dass dies nicht ohne grobe Eingriffe geht, ist den Beamten bewusst: Sie verlangen eine Lenkungsabgabe, die die Energiepreise verdoppelt oder gar verdreifacht, strengere Vorschriften für Häuser und Autos, neue Gesetze, Änderungen der Verfassung. "Die Nutzung von öffentlichen Strassen ist nach der heutigen Bundesverfassung (mit Ausnahme der Autobahnen) gebührenfrei. Dies verträgt sich nicht mit dem in Szenario IV unterstellten Mobility-Pricing. Die Bundesverfassung wäre entsprechend anzupassen." Um diese Revolution durchzusetzen, schreiben die Energiebeamten, wäre ein "breiter gesellschaftlicher Konsens" erforderlich. Energieexperte Kohn, der in einer kürzlich erschienenen Broschüre die Illusion einer 2000-Watt-Gesellschaft zerlegte, spricht von einem "Festival des Dirigismus".
Bis sich der "breite gesellschaftliche Konsens" für eine solche Rosskur eingestellt hat, mochte Umweltminister Leuenberger nicht warten. Ohne es in seinem gut 90-seitigen, jetzt publizierten "Klimabericht" zu erwähnen, führt die jährliche Senkung von 1,5 Prozent der Emissionen geradewegs in die 2000-Watt-Gesellschaft. Getrieben von entschlossenen Beamten in seinem Uvek, die erkannt haben, dass die Zeit für radikale Massnahmen nie wieder so günstig sein dürfte, verfolgt der Umweltminister eine Art Umerziehungsprogramm. Nur eine kleine Minderheit will es wirklich. Doch die Mehrheit merkt nicht, wie ihr geschieht.
Die Welt ist krank, sehr krank. Die Methode ist nicht neu, sondern wurde vor gut zwanzig Jahren bereits erfolgreich angewandt, als in der Schweiz von einem Tag auf den andern das Waldsterben ausbrach. Es gleichen sich die Alarmrufe, die Studien, die Massnahmen: "Die Fachleute bezeichnen diese Krankheit als chronische Vergiftung. [...] Wer heute das Gegenteil behauptet, der ist nach meiner Auffassung wenn nicht sogar bösgläubig, doch zum mindesten unbelehrbar, oder er hat ein persönliches Interesse daran, dass das nicht wahr sein darf, was er nicht als wahr haben möchte. [...] Niemand weiss heute, wie viel Zeit bis zum Umkippen des Ökosystems bleibt." So wetterte der Umweltminister, allerdings nicht Leuenberger, sondern 1985 Vorvorgänger Alphons Egli (CVP), zu den Vereinzelten, die am Weltuntergang, ausgelöst durch das Waldsterben, zu zweifeln wagten. Umweltfundamentalisten und andere Hysteriker, grüne und linke Politiker, die Medien sowie die unisono schreiende Zunft der Wissenschaftler vermochten in den achtziger Jahren die Öffentlichkeit so in die Irre zu führen, dass innert kurzer Zeit nicht nur die Holzwirtschaft mit dreistelligen Millionenbeträgen aus der Bundeskasse unterstützt wurde, sondern die Umweltpolitik der Schweiz und - mit noch weiter reichenden Folgen - die gesamte Verkehrspolitik revolutioniert wurden.
Historiker, die diesen Abschnitt der Schweizer Zeitgeschichte beschrieben haben, qualifizieren die Vorgänge Anfang der achtziger Jahre als eigentliche "Umweltwende", die dank der intensiven politischen und medialen Bewirtschaftung des Märchens vom Waldsterben herbeigezaubert wurde. So hatten die SBB in grünen Kreisen bis 1985 ein durchaus negatives Image und weckten mit ihrem Projekt "Neue Haupttransversalen (NHT)" den erbitterten Widerstand der Naturschützer. Der Bau dieser neuen Hochleistungslinien war politisch tot, bis sie im Sog der kollektiven Waldsterben-Verrücktheit unter dem Titel "Bahn 2000" neu aufgelegt und - eine bemerkenswerte Marketing-Leistung - als umweltschützerische Massnahme beschlossen wurden. Aus Landschaftsfressern und Stromverbrauchern wurden grüne Bahnen.
Am Anfang waren die Experten
Wer einige Köpfe und Funktionen auswechselt und das Wort "Waldsterben" durch den modernen Angstmacher "Klimawandel" ersetzt, der kann sich die aktuelle nervöse Diskussion ersparen und in Ruhe die alten Protokolle, Anträge, Beschlüsse und "Grünbücher" lesen. "Der Mensch des Industriezeitalters hat begonnen, die Natur auf gefährliche Weise zu verändern", so sprach Berichterstatterin Elisabeth Blunschy (CVP, SZ) das schlechte Gewissen an. Umkehr tue not, Verzicht sei gefordert, mahnte sie; und SVP-Nationalrat Adolf Ogi verlangte von den noch Ungläubigen den "tiefgreifenden Bewusstseinswandel". Die einhellige Mehrheit beschimpfte die zweifelnde Minderheit als bösartige Faktenverdreher. Der Zürcher SP-Vertreter Moritz Leuenberger, der mit Notrecht operieren wollte, höhnte in den Saal: "Es ist nicht fünf vor zwölf, wie einige uns weismachen wollen, sondern es ist längst zwölf Uhr gewesen. Die Sturzfahrt ist in den freien Fall übergegangen! Wir haben doch jetzt nicht Zeit, über Verfahrensvorschriften zu diskutieren."
Wie bei der Klima-Sause stand am Anfang dieser "Wende" das geschlossene Kollektiv der Experten. Sie erfanden 1981 den "sauren Regen", vermarkteten ihn medial und propagierten ihn als Ursache für den absehbaren Tod der Nadel- und Laubbäume Europas. Der Spiegel titelte: "Saurer Regen über Deutschland - Der Wald stirbt", die Schweiz echote mit einer Jahr für Jahr alarmistischer abgefassten "Sanasilva-Waldschadeninventur". 1984 schrieben die Wissenschaftler: "Innerhalb eines Jahres hat sich der Anteil der geschädigten Nadelbäume in der Schweiz etwa verdreifacht." 1985 erklärten sie den Zustand der Laubbäume und der Gebirgswälder als nochmals "verschlechtert": Die Folgeschäden erforderten ein rasches Eingreifen der Politik. 1986 bezeichneten die Fachleute bereits 50 Prozent aller Bäume als geschädigt; in den Alpen seien es sogar 60 Prozent! Als Grund für den Zerfall der Wälder, schrieben die Forscher, komme nur "die zivilisationsbedingte Luftverschmutzung" in Frage.
1987 - die Abstimmung über die "Bahn 2000" stand an - zählten die Forstspezialisten schweizweit schon 56 Prozent kranke Bäume und die Ausrottung ganzer Gattungen: "Die Forstgenetiker befürchten eine starke, die Mannigfaltigkeit der Erbanlagen vermindernde Einwirkung der Luftschadstoffe auf die Baumarten"; es müssten Samenbanken, "Saatgutlager" und "Gen-Reservate" angelegt werden. 1988 sank der Anteil geschädigter Bäume ohne nachgereichte Erklärung von 56 auf 43 Prozent; gleichwohl wurden gigantische Folgeschäden von "mindestens 48 Milliarden Franken" (verursacht durch Lawinen) und Schäden in unbekannter Höhe durch Steinschlag prognostiziert. 1989 beruhigte sich die Lage weiter, 1990 bis 1991, als die Neat aufgegleist wurde, "verschlechterte" sich der Zustand nochmals. 1993 erweiterten die Lufthygieniker die Liste der Baumkiller: Nach den Schwefel- und Stickoxid-Emissionen wurde auch das Ozon beschuldigt.
2007, 25 Jahre nach Erscheinen der ersten Todesanzeigen, steht der Wald noch immer, frischer, vitaler als in allen Sanasilva-Berichten beschrieben. Die Resultate der international eingebetteten Sanasilva-Inventur wurden letztmals 1998 ausführlich dargestellt: Die "Sterberate der Bäume" sei "unverändert tief geblieben", hiess es kleinlaut. 2004 wurde leise vermeldet, "die Sterbe- und Nutzungsraten" zeigten "keinen Trend" und hielten "sich mit der Rate der einwachsenden Bäume die Waage".
Dennoch hat die Lüge vom Waldsterben in der Schweiz eine einmalige Welle von staatlichen Interventionen ausgelöst, die bis heute Gesetz sind: Die Autos wurden auf Tempo 80/120 abgebremst, in Quartieren setzte sich das Schritttempo durch. Dazu kamen verschärfte und (anfänglich) jährlich kontrollierte Abgasnormen, auch für Dieselfahrzeuge und Töffs, die Katalysatorpflicht, Luftreinhaltekonzepte, Bauvorschriften, Isolationsnormen, strenge Abgasregimes für Öl- und Gasfeuerungen, Typenprüfungen für Heizkessel und Brenner, obligatorische Abgaskontrollen für Heizungen, Vorschriften, Abgaben, Vorschriften, Abgaben. Die Autobahnvignette und Schwerverkehrsabgaben wurden beschlossen und zielstrebig verteuert.
Es begann die Zeit der fast uneingeschränkten Förderung des öffentlichen Verkehrs: Das Halbtax-Abo wurde mit viel Steuergeld (520 Millionen) auf 100 Franken verbilligt; die Infrastruktur der Bahnen erfuhr einen Ausbau wie nie zuvor. Der öffentliche Verkehr, der vor dem imaginären Waldsterben 1,2 Bundesmilliarden verschlang, kostet heute rund 4,9 Milliarden. Die Mär vom verfallenden Forst hat die dirigistische Verkehrpolitik der Neuzeit - Schikanen gegen das Auto, Dutzende von Milliarden für die Bahn - erst möglich gemacht.
Die Welt ist krank, sehr krank. Die Geschichte wiederholt sich. "Die Klimaänderung findet statt und hat sich in den letzten achtzig Jahren zunehmend beschleunigt. Sie lässt sich grösstenteils durch die vom Menschen verursachte Erhöhung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre erklären und hat unter anderem steigende Temperaturen, eine Anhebung des Meeresspiegels und schmelzende Gletscher zur Folge", schreibt Umweltminister Leuenberger in der Nachfolge Eglis in seinem "Klimabericht". Basis seiner angeblichen Gewissheiten sind wiederum Studien der Wissenschaftler: Die Sanasilva-Experten wurden durch Prognostiker des Intergovernmental Panel on Climate Change ersetzt. Obwohl die Schweiz, damals wie heute, ein ökologisches Mustermädchen ist, sind ausgerechnet hier dringliche Handlungen angesagt: Beim Waldsterben waren alpine Waldungen "besonders bedroht"; heute steigt, ohne nähere Begründung, "in der Schweiz die mittlere Temperatur schneller als im weltweiten Durchschnitt".
In Tat und Wahrheit zielt der Aktivismus nicht auf den Schutz der Umwelt, sondern auf eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Umkrempelung. Es geht um Umverteilung, um die Verstaatlichung des Verkehrs, um neue Sperren gegen den Autoverkehr, um Schub für die Bahnen, um neue Hindernisse für die hiesige Industrie, um "Bewusstseinwandel". Die Schweiz demolieren, um die Welt zu retten, das ist ein politischer Archetyp seit den 68er Jahren. Was ökonomisch nicht geklappt hat, soll jetzt mit dem grünen Hebel bewerkstelligt werden.
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