Scenarien "Himmelfahrt ins Nichts" - VI-6   [ D   E   F ]
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In seinem Buch aus 1992 präsentiert Herbert Gruhl auf 400 Seiten seine Vision der Entwicklung und des Zustandes der Zivilisation.
Im letzten Kapitel zieht er die Schlussfolgerung, dass wir endgültig verloren sind.

(The text is in German. Good luck! Go here for an English machine-translated non-revised)
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    Herbert Gruhl: "Himmelfahrt ins Nichts", München 1992 [ D   E   F ]
    [S. 380-388 (Wiedergabe ohne Gewinnabsicht.)]

    HIMMELFAHRT INS NICHTS
    Der geplünderte Planet vor dem Ende

    Teil VI Kapitel 6: "Gibt es ein Danach?"

    Himmel und Erde werden vergehen, zusammen 
    mit uns vergehen. Ob es dann ganz zu Ende ist?
    Wir wissen es nicht.
                                           

    Der chinesische Philosoph Liä Dsi                      

    Es gibt frühere überzeugende Aussagen darüber, daß die Frist des Lebens auf unserem Planeten begrenzt ist. Besonders die berühmte von Friedrich Nietzsche, die er zweimal mit leichter Abweichung niederschrieb: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben, sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Tiere, die das Erkennen erfunden hatten.«64 Wenn Nietzsche von wenigen Atemzügen — angesichts der Ewigkeit — spricht, so denkt er in Jahrmillionen, bis unsere Erde erkaltet. Er meint also die geologische Entwicklung wie auch schon Liä Dsi im vierten Jahrhundert vor Christus65, wie auch Oswald Spengler, der davon sprach, daß zu guter Letzt die Erde und das Sonnensystem verschwinden werden.66 Aber Nietzsche erkannte auch die andere Gefahr, daß die klugen Tiere an ihrer Erkenntnis sterben könnten, nicht erst durch Erstarrung der Erde. Sie hatten geglaubt, ihren eigenen Fähigkeiten vertrauen und sie in weltverändernde Taten umsetzen zu dürfen. Heute, 120 Jahre später, erkennen einige wenige Menschen, daß dies ein Irrtum gewesen ist, und verfluchen ihn bereits. Doch ist es nicht ein grandioses Phänomen, daß eine Art von klugen Tieren imstande ist, mit eigener Hand alles Leben auf unserem Planeten zu vernichten und damit auch sich selbst? Wer kann bestreiten, daß dazu eine solche Genialität gehört, wie sie vielleicht im ganzen Universum kein zweites Mal wiederkehrt? Doch nicht wir Menschen haben sie errungen, sondern die Natur hat sie uns verliehen.

    [381] Zur Genialität des Menschen gehört auch, daß er sich zu allen Zeiten herrliche Himmelreiche erträumt hat. Über die Jahrtausende verlegten die verschiedenen Religionen alles Erstrebenswerte ins Jenseits. Nach dem Tode werde die geplagte Seele in die ewigen Himmel der Seligkeit aufsteigen. Zu guter Letzt glaubten die technisch siegreichen Euroamerikaner, den Himmel auf dieser Erde einrichten zu können. Ihr neuer Glaube nahm religiöse Züge an, folglich kam es zu Kriegen um den richtigen Weg zum Himmel auf Erden. Der kommunistische Weg scheiterte. Damit scheint der kapitalistisch-demokratische Weg den Sieg errungen zu haben; doch das ist eine Täuschung, die tödlich endet. Denn gerade seine weit effektivere Technik und Wirtschaft wird zwangsläufig die Erde noch schneller ruinieren, zumal er überdies der Bevölkerungsexplosion, die er erst ermöglicht hat, völlig hilflos ausgeliefert ist. Der »freie« Westen lebt genauso in irdischen Wahnvorstellungen wie der Kommunismus. Der extremste Wahn ist der des Auszugs der Menschen in den Weltraum, also ins Nichts! Die tragische Folge der letzten Wahnideen des Menschen ist, daß er seine Lebensbasis, seinen Planeten Erde ins Nichts befördert.
    Dennoch bleibt es die Faszination unseres blauen Planeten, daß eine an sich unbegreifliche Entwicklung einen derartigen Kulminationspunkt erreichen konnte. Dazu gehört auch unsere Erkenntnis, daß uns ein Darüberhinaus nicht mehr offen steht, weil diesmal alle physischen Möglichkeiten, die unser Planet geboten hat, ausgeschöpft worden sind. Damit ist uns der Rückweg abgeschnitten. Die Rettungsschiffe sind verbrannt; doch die meisten wissen es nicht und werden es nie wissen.
    Die Tragödie kann nun mit einem atomaren Donnerschlag enden oder in einem weniger bühnenwirksamen Dahinsiechen der lebenden Wesen, zu denen der Mensch gehört. Letzterer wird noch unwägbare hin und her wogende Kämpfe führen mit ungewissem Ausgang im einzelnen, aber mit gewissem, was das schließliche Ende der Gattung Mensch betrifft.
    Es ist kein Kampf »hie Mensch — hie Natur«, der auf diesem Planeten geführt wird, sondern ein mörderischer Krieg innerhalb der Natur, da ja der Mensch ein Teil von ihr ist. Nicht mehr nur ein Teilchen, oh nein; wie könnten wir ein atomar und mit chemischen Giften bewaffnetes Wesen noch als »Teilchen« bezeichnen? Leonardo

    [382] da Vinci ist wohl der erste gewesen, der die ganze Furchtbarkeit des technikbewaffneten Menschen erfaßt hat. Und er wußte genau, wovon er sprach, da er selbst nicht wenig zu dessen Bewaffnung beigesteuert hat. Somit gehört er nicht zu den »Propheten«, die auf Grund göttlicher Eingebung oder einer »inneren Stimme« Weissagungen in die Welt gesetzt haben. Auf solche lasse ich mich nicht ein. Es blieb den Theologen überlassen, Phantasmagorien wie »Die Offenbarung des Johannes« in die Bibel aufzunehmen. Leonardo erblickte im Heraufkommen des modernen Menschen einen Sprengsatz, der die gesamte Natur zu zerstören sich anschickte. Darum nannte er das Menschengeschlecht »etwas Unnützes auf der Welt, das alles Geschaffene nur vernichtet!«67 Er kennzeichnet den Menschen nicht nur als unnütz, sondern als höchst schädlich für die Lebewelt. Darum der Stoßseufzer: »O Erde. warum tust du dich nicht auf? Warum stürzest du sie nicht in die tiefen Spalten deiner riesigen Abgründe und Höhlen und bietest dem Himmel nicht mehr den Anblick eines so grausigen und entsetzlichen Unwesens?«68
    Nietzsche bezeichnete 400 Jahre später den Menschen als »eine kleine überspannte Tierart, die — glücklicher Weise — ihre Zeit hat; das Leben auf der Erde überhaupt ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, etwas, das für den Gesamtcharakter der Erde belanglos bleibt . . .«69 Zehn Jahre früher hatte er folgende Gedanken: »Vielleicht ist das ganze Menschentum nur eine Entwicklungsphase einer bestimmten Tierart von begrenzter Dauer: so daß der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem verwunderlichen Komödienausgang irgend ein Interesse nehme . . . so könnte auch durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdkultur eine viel höher gesteigerte Verhäßlichung und endliche Vertierung des Menschen, bis ins Affenhafte, herbeigeführt werden.«70 Nietzsche fügte damals noch hoffnungsvoll hinzu: »Gerade weil wir diese Perspektive ins Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.« Andererseits folgt ebenfalls in »Menschliches, Allzumenschliches« der kühne Gedanke: »Der Irrtum hat aus Tieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Tier zu machen?«71
    Wer könnte darauf kommen, daß ausgerechnet Mao Tse-tung exakt

    [283] zum gleichen Gedankengang kam? Wortwörtlich: »Die kommunistische Gesellschaft wird einen Anfang haben und ein Ende . . . Es gibt nichts in der Welt, das nicht entsteht, sich entwickelt, verschwindet. Affen wurden zu Menschen, die Menschheit entstand. Am Ende wird auch das Menschengeschlecht verschwinden, aus ihm wird vielleicht etwas anderes, und dann wird auch die Erde zu bestehen aufhören. Die Erde wird erlöschen, die Sonne wird erkalten.«72 Mao berief sich dabei auf den deutschen Universalgelehrten Ernst Haeckel (1834—1919), der über die Weltentwicklung urteilte, daß ihr weder ein bestimmtes Ziel noch ein besonderer Zweck (im Sinne der menschlichen Vernunft) nachzuweisen sei. Somit ließen sich vielleicht Maos und Nietzsches Ansichten auf die Haeckels zurückführen. Bezeichnenderweise hat Mao kein Testament hinterlassen, da er aufgrund seiner Philosophie wußte, daß sich die Nachfolger ohnehin an nichts dergleichen halten würden. Der immerwährende Wandel trägt die Menschen ganz woanders hin, als sie gern möchten.
    Die Wahrheit wäre lediglich das, was nötig ist, um als Lebewesen zu überleben. So gesehen wäre die gesamte technische Kultur ein grandioser Irrtum gewesen. In dieser Richtung liegt Robert Ardreys Erwägung: »Wenn es eine Hoffnung für den Menschen gibt, dann deshalb, weil wir Tiere sind.« 73 Damit unterstellt er, daß der animalische Instinkt mit dem Willen zum Leben wenigstens in einem Rest des Menschengeschlechts noch stark genug sein könnte, um per Anpassung auch die widrigsten Lebensbedingungen durchzustehen. In den Eiszeiten wird das nicht anders gewesen sein, aber es gab damals keine vom Menschen ersonnenen Gifte.
    Die Grundbedingung für ein Überleben des Menschen wäre natürlich, daß große Teile des Pflanzen- und Tierreiches erhalten blieben. Doch diese Chance droht ihnen der Mensch zu rauben. Der atomare Komplex mit all seinen Langzeitwirkungen gefährdet den Bestand alles höheren Lebens auf unserem Planeten, nicht nur des menschlichen. Ein großer Atomkrieg mit der folgenden atomaren Nacht würde das Pflanzen- und Tierreich mitvernichten. Die Filme darüber gibt es schon. Vielleicht könnten auch dann noch primitive Insekten und Würmer Überleben sowie einige einfache Pflanzen. Auch über das weitere Leben in den Meeren läßt sich schwer etwas voraussagen. Wäre über die Millionen Jahre eine erneute Evolution

    [384] möglich? Sie würde dann sicher nicht die gleichen Stufen durchlaufen und auch nicht die gleichen Gattungen hervorbringen, die wir Glücklichen noch kennenlernen durften.
    Selbst wenn es nie zu einem Atomkrieg kommt, eine Strahlenverseuchung der Naturkreisläufe wird es dennoch geben. Fünfhundert Kernkraftwerke werden bald in Betrieb sein, und um das Jahr 2030 werden sie als strahlende Ruinen dastehen. Und wie viele werden bis dahin noch dazugekommen sein? Einige werden wie das in Tschernobyl oder auf noch schlimmere Weise explodieren, andere durch Erdbeben oder Kriegshandlungen zerstört werden. Die nähere Umgebung wird dabei jeweils total verstrahlt, und im Laufe der Zeit wird die Zahl solch unbewohnbarer Flecken auf den Landkarten zunehmen. Aber auch der Gesamtpegel der Strahlung wird sich zwangsläufig erhöhen. »Die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung der Umwelt infolge von Kernreaktorunfällen nimmt ebenso zu wie die Möglichkeit einer weiteren Verbreitung von Kernwaffen«, stellte der Report »Global 2000« fest.74 Zur Zeit produzieren die Kernkraftwerke in der Welt fast 100 000 Tonnen abgebrannter Brennstäbe jährlich. Die angesammelte Menge wird bis zum Jahr 2030 um die drei Millionen Tonnen erreichen. Dazu kommen Millionen Kubikmeter schwach radioaktiver Abfälle. Einige Nebenprodukte der Reaktoren haben Zerfallszeiten, die fünfmal so lang sind wie die Periode der überlieferten Geschichte.75
    Inzwischen liegen schon Massen davon in aller Welt herum, offen über der Erde, in Kühlhaltebecken (deren Stromversorgung nicht ausfallen darf) meist neben den Atomkraftwerken, der geringste Teil in Bergwerken. Wer wird sich in den kommenden Notzeiten darum kümmern? Wo nicht einmal in heutigen Wohlstandszeiten eine befriedigende Lagerung gefunden wurde!
    Die Chemie ist in einem einzigen Jahrhundert zu einer gewaltigen »Wachstumsbranche« emporgeschossen. Sollte sie nur noch weitere hundert Jahre in der jetzt erreichten Intensität produzieren, dann werden Böden, Gewässer und sogar die Luft derart von chemischen Verbindungen durchsetzt sein, daß allein daran ganze Gattungen zugrunde gehen müssen. Hinzu kommen die Metalle, von denen jährlich sechs Millionen Tonnen über die Atmosphäre verbreitet werden.
    Der Mensch wird sich zunächst mittels der medizinischen Gegengifte

    [385] sozusagen eine Weile über Wasser halten. Aber auch ihm wird nur noch selten gesundes Wasser und unvergiftete Nahrung zur Verfügung stehen. Darum ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Menschen dahinsiechen werden. Es ist fraglich, ob Reste von ihnen Jahrhunderte durchzuhalten vermögen, bis die Natur die Gifte und Strahlungen wieder verdaut haben könnte. Denn die ultraviolette Strahlung aus dem Weltraum, die Isotope aus der Kernspaltung werden die Gene aller Lebewesen mehr oder weniger stark beschädigen. Und welche Folgen die Manipulation des Menschen mit den Genen haben wird, läßt sich nicht voraussagen.
    Sollten diese drei Globalkalamitaten einzeln und in ihrem Zusammenwirken nicht übermäßig steigen, dann dürften wesentliche Teile der Flora und Fauna überleben, doch kaum der Mensch und in keinem Fall sein heutiger Lebensstil. So wie es zur Zeit aussieht, kann das pflanzliche und tierische Leben nur noch durch eine baldige Katastrophe des menschlichen Lebens gerettet werden. Doch eine atomare dürfte es eben nicht sein! Die Dezimierung auf einige hundert Millionen wäre aber Voraussetzung des (Überlebens der meisten übrigen Gattungen. Deren Restbestand bedingt wiederum die Anzahl der Menschen, die ja von ihnen leben müssen.
    Einiges kann über das künftige Aussehen der Länder vorausgesagt werden. Ruinenlandschaften werden das Bild beherrschen. Die schon heute sichtbaren Industrieruinen sind nur die Vorboten der Zeit, in der die Landschaften weitaus dichter damit bestückt sein werden als heute mit den Resten der mittelalterlichen Ritterburgen. Doch während man diese in Quadratmetern quantifizieren kann, wird man bei jenen in Quadratkilometern rechnen müssen. Die Frage, was wird dereinst daraus, hat sich unser technisches Zeitalter nie gesteilt. Auch das ein Beispiel für des Menschen Unfähigkeit, den Planeten zu verwalten. Unüberlegt und bedenkenlos wurden und werden in wenigen Jahren Ruinen für Jahrtausende gebaut. Der abtretende Mensch wird die Erde als Trümmerfeld hinterlassen. Was aus den Millionen von Städten für Milliarden von Menschen werden wird, hat uns schon Bert Brecht gesagt: »Von den Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind.«76
    Die gleiche Ahnung hatte auch Friedrich Schiller77:
      »Jahrelang mag, jahrhundertelang die Mumie dauern,
      Mag das trügende Bild lebendiger Fülle bestehn, [386]
      Bis die Natur erwacht, und mit schweren, ehernen Händen
      An das hohle Gebäu rühret die Not und die Zeit,
      Einer Tigerin gleich, die das eiserne Gitter durchbrochen
      Und des numidischen Walds plötzlich und schrecklich gedenkt,
      Aufsteht mit des Verbrechens Wut und des Elends die Menschheit
      Und in der Asche der Stadt sucht die verlorne Natur.«
    Von der Natur wird leider nicht viel zu finden sein. Aber im Schutt der Städte werden noch Reichtümer liegen: Äxte, Hammer, Sägen, Schraubstöcke und andere Handwerkszeuge, dazu Nägel und Drähte. Auch die Feldbestellung wird leichter sein als in der Steinzeit, wo sich die Menschen alle Werkzeuge erst mühsam anfertigen mußten. Vielleicht wird aber die verschwindende Anzahl von Menschen wieder als Jäger und Sammler ihr Auskommen haben. Es könnte aber auch sein, daß kein einziger Mensch überlebt. Eine Vorstellung, die selbst für Herbert George Wells bedrückend ist, wenn nicht einmal eine kleine Minderheit »Zeuge des Lebens bis zu seinem unausbleiblichen Ende« bleiben sollte.78

    Es sind schon etliche aufgetaucht, die das Ende des Menschen begrüßen; »daß keine Hoffnung mehr ist, vermag sie hoffnungsfroh zu stimmen«, so den Münsteraner Philosophen Ulrich Horstmann. »Die Menschenleere ist vorstellbar«, schreibt er.79 Wieso auch nicht. Sogar das absolute Nichts haben sich Menschen schon vorgestellt, seit sie zu denken anfingen. Philosophen, zum Beispiel Wilhelm Leibniz, haben sich die Frage gestellt, warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr das Nichts? Bei der frühen Suche nach Erklärungen entstanden die Schöpfungsmythen, in denen erzählt wird, wie aus dem Nichts die Erde, insbesondere das Leben geworden sei. Und so gut wie jeder Mensch hat Angst vor dem Nichts, mit dem er im Bewußtsein des eigenen Todes stets konfrontiert wird. Wenn Arthur Schopenhauer das buddhistische Credo, »daß wir besser nicht da wären, aufnimmt, dann ist das wohl schon »der letzte matte Stoß des Geistes«, von dem H. G. Wells spricht.80 Der Mensch hat in seiner Geschichte stets mit großem Geschick das Geschehen so gedeutet, als sei es »gottgewollt«. Insofern ist es durchaus nicht überraschend, wenn nun auch einige unseren unvermeidlichen Untergang als Sieg feiern möchten. Ja manche sehen [387] darin den Plan eines Gottes, der sich von Anfang an das Nichts ersehnte. So der jugendliche Philosoph Philip Batz, der sich Mainländer nannte und im Alter von 33 Jahren 1876 konsequent Selbstmord beging. Aber was müßte das für ein seitsamer Gott sein der vier Milliarden Jahre lang so um die 1000 Millionen verschiedener Arten ins Leben schickt, um schließlich das Nichts zu erreichen, welches er doch wohl ohne jede Anstrengung hätte haben können. Die Leere ist vielmehr des Teufels Wunsch, wie es Mephisto sagt:
    »Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.«81 Der Wille zum Nichts scheint einer der neuesten trügerischen Höhenflüge des Geistes, eine seiner Mutationen zu sein. »Das Paradies ist die Abwesenheit des Menschen«, sinniert der rumänisch-französische Schriftsteller Emile Cioran, wo doch die Natur niemals ein Paradies gewesen ist. Das scheint er wie Horstmann nicht bedacht zu haben, der über »die ewige Seligkeit des Versteinerten und der Steine« ins Schwärmen gerät.82
    Diese Denker, die das Leben desavouieren wollen, hat schon Nietzsche abgefertigt: »Sonderbare Schwärmer, die im Absterben der Menschheit das Heil und Ziel des Willens sehen!«83
    In der Argumentation dieses Buches, gemäß dem »Gesetz der gleitenden Fügungen«, könnten wir darin auch eine vorauseilende Anpassung an das Unvermeidliche sehen; einen weiteren Beweis dafür, da der Mensch selbst noch dem Absurden Positives abzugewinnen versteht. Doch hier möchte ich mich lieber H. G. Wells anschließen: Wir wurden von dem Willen zum Leben gezeugt und werden um das Leben kämpfend sterben.
    Das ändert nichts an unserem gesicherten Wissen darüber, daß wir den Kampf verlieren werden. Die Menschen werden in dem Kampf eben darum unterliegen weil sie allzu rücksichtslose Kämpfer sind. Anders formuliert: Sie sind zum Überleben auf einem begrenzten Erdball zu tüchtig!84 Die von den Menschen losgetretenen Lawinen rollen nun hernieder und begraben das Leben unter sich. Aufzuhalten sind sie nicht, wir können uns nur noch über ihre Geschwindigkeit ein wenig streiten.
    Auf unserer verkürzten Zeitskala heißt das: Wenn tausend Jahre gleich einer Nachtwache sind, dann ist der lange Mittsommertag der Menschen, während dem die Kulturen der letzten zweieinhalb Jahrtausende blühten, jetzt vorüber. Die erst vor einer Stunde in

    [388] der heraufziehenden Dämmerung entzündeten elektrischen Lichter strahlen noch hell in den Weltraum hinaus. Doch bald nach Einbruch der Dunkelheit naht die Mitternacht — und die Lichter werden verlöschen. Was im Rest der Nacht noch geschehen wird und wie bald, wissen wir nicht. Doch der triumphreiche Tag des Menschen war von ihm selbst — unbewußt — so angelegt, daß es keinen lichten Morgen mehr gehen wird. Die Europäische Kultur, über die hinaus keine Steigerung mehr möglich ist — wie schon über die Griechische nicht, mit Ausnahme unserer grandiosen und tödlichen Supertechnik — ist die letzte dieses Planeten. Wir haben ihren Höhepunkt gerade erst überschritten, so daß wir noch von ihm aus das ganze phantastische Schauspiel überblicken können, das auf unserem einsamen Himmelskörper über Milliarden Jahre gelaufen ist und nun als Tragödie endet.

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    64 Nietzsche in: »Über das Pathos der Wahrheit«, niedergeschrieben in den Weihnachtstagen 1872 und »in herzlicher Verehrung udn als Antwort auf mündliche und briefliche Fragen« Frau Cosima Wagner gewidmet. (1-759f) Vgl. die entsprechende Stelle in: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.« (1-875).
    65 Liä Dsi 37.
    66 Spengler 217.
    67 Leonardo 8.
    68 Leonardo 863.
    69 Nietzsche 13-488. Vgl. 13-50: »Es sind schon viele Tierarten verschwunden; gesetzt, daß auch der Mensch verschwände, so würde in der Welt nichts fehlen.«,
    70 Nietzsche 2-205f.
    71 Nietzsche 2-324.
    72 Klaus Mehnert über das Gespräch Maos mit Bundeskanzler Helmut Schmidt in Peking (»Welt am Sonntag« 30.11.1975).
    73 Ardrey 289.
    74 »Global 2000« 85.
    75 »Global 2000« 85f.
    76 Brecht 262.
    77 Schiller: »Der Spaziergang«.
    78 Wells 50.
    79 Horstmann 27.
    80 Wells 26,
    81 »Faust II« (Goethe XII 291).
    82 Horstmann 21.
    83 Nietzsche 7-162.
    84 »Sind wir zum Überleben zu tüchtig?«, so lautete der Titel einer »Spiegel«-Serie im Jahre 1990, Nr. 35-37.

    Literatur
    - Ardrey, Robert: »Der Gesellschaftsvertrag - Das Naturgesetz von der Ungleichheit der Menschen.« Molden, Wien 1970.
    - Brecht, Berthold: »Die Gedichte.« Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981
    - Goethe, Johann Wolfgang von: »Goethe's sämtliche Werke in vierzig Bänden.« Cotta'scher Verlag Stuttgart- Tübingen 1840.
    - Horstmann, Ulrich: »Ansichten von großen Umsonst.« Mohn, Gütersloh 1991.
    - Nietzsche, Friedrich: »Sämtliche Werke - Kritische Studienausgabe.« Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari in 15 Bänden. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1980.
    - Leonardo da Vinci: »Tagebücher und Aufzeichnungen.« Paul List, Leipzig 1940.
    - »Leonardo da Vinci in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten« dargestellt von Kenneth Clark, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 1982.
    - »Philosophische Tagebücher.« Rowohlt, Hamburg 1958.
    Liä Dsi: »Das wahre Buch vom quellenden Urgrund.« Eugen Diederichs, Düsseldorf-Köln 1981.
    Schiller, Freidrich: »Der Spaziergang.« Der Spaziergang" - http://gutenberg.spiegel.de/buch/3344/1.
    Wells, Herbert George: »Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten.« Amstutz, Herdeg, Zürich 1946.
    Der Spiegel, Peter Brügge: »"Sind wir zum Überleben zu tüchtig«
    www.spiegel.de/spiegel/print/d-13502027.html www.spiegel.de/spiegel/print/d-13500402.html www.spiegel.de/spiegel/print/d-13501364.html
    - »Global 2000 - Report to the president.« 2001 Versand, Frankfurt am Main, 1980.
  • Einleitug aus "Himmelfahrt ins Nichts" von Herbert Gruhl, 1992

  • "Gibt es ein Danach?" aus "Himmelfahrt ins Nichts" von Herbert Gruhl, 1992
    (Zahlen in eckigen Klammern sind Seitenzahlen des Buches.) [backzurück] [top ]

    Vorwort (Aus "Himmelfahrt ins Nichts")

    [9] Das große Thema vom Aufstieg und Untergang der Kulturen steht aus dringendem Anlaß erneut auf der Tagesordnung der Weltgeschichte — und diesmal für die Erde insgesamt, erweitert um das Entstehen und Vergehen der Lebewesen überhaupt. In den letzten 200 Jahren wurde die Oberfläche unseres Planeten immer schneller umgestaltet, zerfurcht, ja verwüstet, die Luft verändert und die Gewisser verdorben. Nichts läuft mehr so, wie es die letzten Jahrtausende und sogar noch die letzten Jahrhunderte im natürlichen Rhythmus des Himmels und der Erde verläßlich dahinging. Die Ereignisse haben ein rasendes Tempo und eine globale Gleichzeitigkeit angenommen, in deren Wirbel alle besinnungslos hineingerissen werden. Nur einzelne gewinnen soviel Abstand, um das Geschehen noch überschauend zu begreifen.
    Wir erleben zur Zeit das faszinierende Schauspiel, wie eine Art von Lebewesen — unsere eigene — die kosmische Tragödie ihres Unterganges inszeniert. Die Einleitung meines Buches »Ein Planet wird geplündert« schloß ich 1975 mit den Worten des Dichters Eugène Ionesco: »Ich bin ein Mensch unter drei Milliarden Menschen. Wie kann da meine Stimme gehört werden? Ich predige in einer übervölkerten Wüste. Weder ich noch andere können einen Ausweg finden. Ich glaube, es gibt keinen Ausweg.«1 Danach habe ich 15 Jahre nach Auswegen gesucht und wohl um die tausend Vorschläge von Zeitgenossen überprüft, die solche gefunden zu haben vorgaben oder auch nur vortauschten. Alle griffen zu kurz, erwiesen sich als einseitig und verkannten außerdem die Schwierigkeiten jeder politischen Umsetzung.
    Die Zahl der Bücher, die sich mit der Krise des Menschen auf diesem Planeten auseinandersetzen, ist inzwischen auf einige tausend Titel angeschwollen. Die meisten schließen mit klugen Plänen, wie diese Erde zu retten sei; doch fast nichts davon wurde politisch aufgegriffen. Alles blieb so folgenlos wie gelesene Romane oder Gedichte. Folgenlos blieben auch die unzähligen wohlgemuten Konferenzen, zu denen die Teilnehmer von Erdteil zu Erdteil jagen. In der UNO wurde am 29. 10. 1982 eine »Weltcharta für die [10] Natur« von 111 Nationen »verabschiedet«. Bedeutende Wirkungen hatte die »Erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen« 1972 in Stockholm haben sollen. Man schrieb damals: »Die Menschheit hat vielleicht gerade noch eine geringe Chance, ihr Überleben für einige Zeit zu sichern.«2 Diese »Umweltkonferenz« wird 1992 ihren zwanzigsten Jahrestag in Brasilien feiern, ohne eine nennenswerte Erfolgsbilanz vorlegen zu können, obgleich doch schon der seinerzeitige Generalsekretär der UNO, U Thant, 1969 erklärt hatte, daß nach seiner Schätzung nur noch ein Jahrzehnt zur Verfügung stünde, weil danach »die Probleme derartige Ausmaße erreicht haben werden, daß ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt«.3 Die geschätzten zehn Jahre sind bereits zweimal verstrichen, obwohl wir seit jener Zeit den Ruf hören: »Es ist fünf vor zwölf«. Wie lange bleibt es immer noch fünf vor zwölf? Hat jemand die Weltuhr angehalten? Nein! Nichts wurde in den zwei Jahrzehnten gestoppt, das Tempo ins Unheil vielmehr weiter gesteigert! Dem suchen einige Weltbetrachter Rechnung zu tragen, indem sie variieren: »Es ist schon zwölf« oder »es ist eine Minute nach zwölf«. Das gibt Anlaß zu fragen, wie lange denn nun eine solche Weltminute dauert.
    In der Bibel heißt es: »Tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag oder eine Nachtwache.« Rechnen wir die Nacht zu acht Stunden, gleich 480 Minuten, dann vergehen pro Minute zwei Jahre. »Fünf vor zwölf« hieße dann: zehn Jahre vor dem Ende. Wenn es also heute »fünf vor zwölf« wäre, dann würde ausgerechnet im Jahre 2000 die Posaune der Apokalypse ertönen! Wie erfreulich suggestiv für diverse Sekten! Doch ich halte nichts von solchen runden Jahreszahlen; denn das Jahr 2000 wird ein Jahr wie jedes andere sein. Daß die meisten Länder heute dem gregorianischen Kalender folgen, ist purer Zufall; für die Juden wird dann das Jahr 5761 sein, die Mohammedaner werden dann Mitte Juli vom Jahr 1378 in das Jahr 1379 übergehen.
    In welchem der Jahre die große Katastrophe eintreten wird, läßt sich nicht vorausberechnen, abgesehen davon, daß es wahrscheinlich Ketten von Katastrophen geben wird. Sicher ist nur, daß sich das Verhängnis nicht mehr aufhalten läßt — genauso wenig wie eine Lawine zu stoppen ist, wenn sie sich gelöst hat. Aus Amerika kam vor 20 Jahren die Vorstellung eines »point of no return«. Bevor ein [11] Flugzeug soweit geflogen ist, daß es die Hälfte seines Treibstoffs verbraucht hat, muß es umkehren, wenn es seinen Heimathafen noch erreichen will. Für die Entscheidung bleiben letztlich nur Sekunden, bevor der Punkt, von dem aus keine Rückkehr mehr möglich ist, überflogen wird — und die Reise ins Nichts beginnt. Auch dabei könnte geschehen, daß die Passagiere das Ereignis zunächst nicht einmal bemerken.
    Auf unseren Planeten übertragen heißt das: Eine Umkehr müßte frühzeitig in die Wege geleitet werden, wenn die Gegenmaßnahmen überhaupt noch Aussicht auf Erfolg haben sollen. Der amerikanische Wissenschaftler Thomas Lovejoy meinte 1988, »daß die meisten Kämpfe um die Erhaltung der Umwelt in den neunziger Jahren entweder gewonnen oder verloren werden. Im nächsten Jahrhundert wird es zu spät sein.«4 Aber wir befinden uns noch keineswegs im Stadium der Kämpfe und Gegenmaßnahmen, sondern im Stadium der Diskussion, ja des Streites darüber, ob die Lage überhaupt bedrohlich sei! Und während einige wenige über die Altlasten diskutieren, schaffen Milliarden Menschen Tag für Tag Neulasten und jubeln darüber!
    Der Psychologe Erich Fromm wunderte sich schon 1976: »Alle Daten sind der Öffentlichkeit zugänglich und weithin bekannt. Die nahezu unglaubliche Tatsache ist jedoch, daß bisher keine ernsthaften Anstrengungen unternommen werden, um das uns verkündete Schicksal abzuwenden. Wahrend im Privatleben nur ein Wahnsinniger bei der Bedrohung seiner gesamten Existenz untätig bleiben würde, unternehmen die für das öffentliche Wohl Verantwortlichen praktisch nichts, und diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben, lassen sie gewahren. Wie ist es möglich, daß der stärkste aller Instinkte, der Selbsterhaltungstrieb, nicht mehr zu funktionieren scheint?«5
    Ja, wie ist das möglich? Diese Frage erforscht das vorliegende Buch. Dazu müssen wir das Wesen des Menschen und seine Vergangenheit studieren. Eine mögliche Antwort gab uns bereits der bekannte britische Schriftsteiler Herbert George Wells: »Es gibt große, ungewisse Massen im Ameisenhaufen, deren Führer, weil sie unfähig sind zu erfassen, was geschieht, ihre Zuflucht zu den übelsten und bösartigsten Beschwörungen nehmen... Die unglückselige, von diesen wimmelnden, stoßenden Massen gepackte [13] Ameise tut ihr Bestes, sich ihren Glauben an die zu erhalten, denen sie sich überantwortet hat.«6 Die Menschenmassen glauben immer noch an eine ihnen weit überlegene und überlegende Führung, und die Völker sind Mitläufer und Mittäter der ökologischen Zerstörung. Dabei dürften sie sich heute durchaus entscheiden, dagegen zu sein, zu protestieren oder sogar »auszusteigen«. Doch einige Dutzend anderer Themen erscheinen den Menschen der Gegenwart wichtiger ais die Grundlagen ihres Lebens. Das Wissen von der belebten Natur ist in unheimlich kurzer Zeit aus den Köpfen verschwunden. Die Wissenschaften haben, um zu immer detaillierteren Kenntnissen zu kommen, unsere Welt in zunehmend winzigere Stückchen aufgesplittert, und nun ist niemand da, der sie wieder zusammenfügen könnte. Andererseits haben es die Wissenschaften, an denen wir zugrunde gehen werden, auch möglich gemacht, jetzt das große Welttheater vor uns aufzurollen, was ich mit diesem Buch versuche.
    Eine die Lebensvorgänge zusammenfassende Wissenschaft, die Ökologie, ist erst im Laufe dieses Jahrhunderts zögernd entstanden. Sie hat inzwischen das Weltbild des Menschen der industriellen Zivilisation ais fatal entlarvt. Die Ergebnisse der Ökologie sind für die menschliche Gattung deprimierend. Das auserwählte Geschöpf, ja Statthalter Gottes auf Erden, sieht sich zeitlich und räumlich eingebunden in die Lebenskette und in das Lebensnetz aller Wesen. Seine Vorfahren waren nicht nur affenähnlich, sondern seine Ahnenreihe reicht weit zurück bis zum Einzeller. Da findet sich keine göttliche Abstammung, von der viele Religionen ausgehen, und auch keine Gottähnlichkeit. Und kein ehrlicher Biologe kann dem Menschengeschlecht die gewünschte herrliche Zukunft versprechen, er muß vielmehr vor den von Jahr zu Jahr steigenden Gefahren warnen. Die Wissenschaft hat nach Wahrheit zu streben. Noch viel wichtiger: »Nicht eine glücksorientierte, nur eine wahrheitsorientierte Gesellschaft kann auf die Dauer gedeihen«, befand der Physiker Cari Friedrich von Weizsäcker.7 Damit ist aber auch unsere Situation gekennzeichnet; denn wann hat es je so glücksbesessene Gesellschaften gegeben wie heute? Der Philosoph Martin Heidegger konstatierte schon kurz nach dem Krieg die Notlage: »Der geistige Verfall der Erde ist so weit fortgeschritten, daß die Völker die letzte geistige Kraft zu verlieren drohen, die es [13] ermöglicht, den ... Verfall auch nur zu sehen und als solchen abzuschätzen. Diese einfache Feststellung hat nichts mit Kulturpessimismus zu tun, freilich auch nichts mit einem Optimismus; denn die Verdüsterung der Welt, die Flucht der Götter, die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen, der hassende Verdacht gegen alles Schöpferische und Freie hat auf der ganzen Erde bereits ein Ausmaß erreicht, daß so kindische Kategorien wie Pessimismus und Optimismus längst lächerlich geworden sind.«8
    Es ist bezeichnend, daß sich die sogenannte »Öffentlichkeitsarbeit« sowohl der Wirtschaft wie der Politik des kindischsten optimistischen Geschwätzes bedient, um sich die frisch-fröhlichen Konsumenten zu erhalten. So haben nicht einmal die entsetzlichsten Ereignisse dieser Jahre einen Schrecken, geschweige eine Lahmung auszulösen vermocht. Im Gegenteil! Es kam zu gewaltigen Anstrengungen in Richtung »wirtschaftliches Wachstum« gerade bei den Völkern, die schon längst das meiste verschwenden — also zur Forcierung der Kräfte auf ein schnelleres Ende! Und das auf allen Gebieten: Wissenschaft, Technik, Produktion, Verkehr, folglich auch Erhöhung der Müllberge, der chemischen und radioaktiven Vergiftungen rund um die Erde. Nach dem kurzen Schock der Ölkrise des Jahres 1973 wurden in den achtziger Jahren wieder phantastische Steigerungsraten erzielt. Die Bewohner des Planeten Erde schwelgen im »Erfolg«, da sie die Massenstatistik ais Wertmaßstab betrachten. Die Völker werden mit Geld und Zahlen gefüttert und ruhig gestellt. Wer denkt da noch an die Warnungen des »Club of Rome« vor bald 20 Jahren, an meine »Schreckensbilanz unserer Politik« vor 17 Jahren und an die Unheil verkündenden Prognosen der Untersuchung für den amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter vor zehn Jahren mit dem Titel »Global 2000«.
    Seit rund zwei Jahrzehnten erweisen sich immer wieder die negativsten Umweltprognosen ais die zutreffendsten, wenngleich sie stets im ohrenbetäubenden Lärm rastloser Geschäftigkeit untergehen und nur ab und zu mit unerwarteten Schreckensmeldungen die Bewußtseinsschwelle durchbrechen — allerdings in immer kürzeren Abstanden. Das heißt, daß die verschrienen Pessimisten zunehmend Recht behalten und mit Friedrich Nietzsche gelassen antworten können: »Pessimismus ... hat in der Not seine Mutter. Er ist älter und ursprünglicher ais der Optimismus, produktiv, so daß er [14] selbst noch seinen Gegensatz an’s Licht ruft.«9 (Alle Hervorhebungen innerhalb der Zitate stammen von den zitierten Autoren selbst.) Ich schließe mich darum Nietzsche an: »Weg mit den bis zum Überdruß verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlaß, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tag mehr: nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nötig10 Ich werde den letzten genialen Philosophen, Friedrich Nietzsche, vielfach heranziehen, denn er sah bereits ein Jahrhundert früher, wohin sich die Welt mit unausweichlicher Konsequenz entwickelt. Der monumentale Block seiner Gedanken über das Leben und die Geschichte ist bei weitem noch nicht in seiner ganzen Dimension erkannt. Nur einzelne erklimmen wie er »den archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge«11, die mit ihrem Getöse die heutige Zeit erfüllen; denen aber wird immer klarer, »daß der kosmische Ablauf der Ereignisse in wachsendem Maße der geistigen Struktur unseres Alltagslebens entgegengesetzt ist«.12
    Wo sollten da noch Menschen zu finden sein, die Notwendiges nicht nur mitdachten, sondern auch mittäten? Wo das Mittun jetzt ein Mitverzichten sein müßte — also etwas, was der Mensch wie jedes Lebewesen noch nie einüben konnte und auch nicht einüben durfte, weil er sonst die Millionen Jahre nicht überstanden hätte. Der Bericht »Zur Lage der Welt 89/90« endet mit der Erkenntnis, daß, solange nicht mehr Menschen mitmachen, um die Zerstörung der Erde aufzuhalten, wenig Hoffnung bleibt. Weltverbesserer laufen scharenweise herum. Um aber einige zu finden, die sich damit begnügen, die Welt zu erhalten, muß man lange suchen. Das ist meine Erfahrung aus einem zwanzigjährigen hoffnungslosen Kampf gegen die Gleichgültigkeit. Weder mit Gott noch mit dem Teufel kann man heute den Menschen so viel Angst einjagen, daß sie ihr Leben andern würden. Dennoch bin ich im siebzigsten Lebensjahr immer noch darauf bedacht, in dieser Zeit der Verwirrung für die angesammelten Erfahrungen nutzbringende Verwendung zu finden. Um Zustimmung bemühe ich mich nicht mehr, schreibe aber infolge des gleichen Dranges, unter dem der Mensch vor einigen zehntausend Jahren angetreten ist, um schließlich den Geist bis an die äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten voranzutreiben.

    Herbert Gruhl 1992, Wiedergabe ohne Gewinnabsicht, nur für Umweltdiskussionszwecken.

  • Notes and literature: [In pop-up windows; requires javascript activation of the browser.]
    notes p. 389
    literature p. 402-403
    literature p. 404-405
    literature p. 406-407
    literature p. 408-409
    literature p. 410-411
    literature p. 412-411

  • Einleitung "Unbehaust zu Hause im Universum" aus "Himmelfahrt ins Nichts" von Herbert Gruhl, 1992