Genf, 28 März 2005
Wachstumspolitik; Ihr Brief vom 17.2.2004, mein Brief vom 14.1.2004
Sehr geehrter Herr Bundesrat Deiss,
für Ihre Stellungnahme danke ich Ihnen bestens. Nachdem Sie nun von den Pflichten der Bundespräsidentschaft entlastet sind, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit nochmals auf dieses Thema lenken. Bequemlichkeitshalber finden Sie anbei Kopien der im Betreff genannten Briefe.
Sie schreiben, dass Wirtschaftswachstum trotz erschöpfbarer Ressourcen für alle Zeit möglich ist, weil die erschöpfbaren Ressourcen sich verteuern und daher sparsamer eingesetzt oder durch andere, erneuerbare Ressourcen ersetzt werden.
Diese Argumentation geht jedoch am Problem vorbei. Wenn Ressourcen bei höheren Preisen sparsamer eingesetzt oder ersetzt werden, könnte dies sogar eine Verbrauchsreduktion zu Folge haben und die Wirtschaft könnte schrumpfen. Entscheidend ist das dannzeitige Preis-Materialmengen-Verhältnis, über das eine Voraussage sehr schwierig erscheint.
Die Frage ist nicht ein allfälliger Ersatz von Ressourcen. Das Problem ist das Wirtschaftswachstum selbst.
Beim Wirtschaftswachstum handelt es sich um die Zunahme des Bruttoinlandprodukts, ausgedruckt in CHF und inflationsbereinigt. Jeder Franken stellt eine entsprechende Menge von Waren und Dienstleistungen dar. Und wenn es sich nicht um Kunst handelt, bedeutet eine Erhöhung des BIP eine entsprechende Erhöhung des materiellen Aufwandes, der Ressourcen also. Dabei bedenke man, dass die sogenannten Dienstleistungen in Tat und Wahrheit mehrheitlich solche sehr materialintensiven Bereiche umfassen, wie der Verkehr und der Warentransport. Eine Verlagerung der Wirtschaft in diese Bereiche hat keine Verringerung des Materialverbrauchs zu Folge und vielleicht sogar gegenteilige Auswirkungen.
In Ihrem Brief erwähnen Sie eine Reihe von philosophischen Überlegungen, Möglichkeiten, Wünschbarkeiten und Alternativen. Daraus schliessen Sie dann, dass die Wachstumspolitik nicht im Widerspruch mit dem Gebot der Nachhaltigkeit steht. Es würde zu weit führen, jede einzelne Zeile Ihres Briefes hier kritisch zu beleuchten. Deswegen soll hier nur der Kern der Sache nochmals hervorgehoben werden.
Nachhaltigkeit ist ein Zustand, der unverändert auf sehr lange Zeit so weiterbestehen kann. Wirtschaftswachstum entspricht Zunahme des Ressourcenverbrauchs. Aber das kann nicht mehr lange so weitergehen.
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Herrn Bundesrat Deiss 28.3.2005 - Seite 2/2
Wenn die Automobilindustrie, als Beispiel, im letzten Jahr weltweit 62,8 Millionen Motorfahrzeuge produzierte, fünf Prozent Wachstum gegenüber 2003, dann sind das 3 Millionen Fahrzeuge mehr. Um den Gegenwert dieser Anzahl Fahrzeuge stieg das Weltbruttoprodukt. Dementsprechend mehr Grundstoffe wurden verbraucht.
Wenn in der Schweiz die Verkehrsträger, gesamthaft gesehen, ausgebaut werden, dann ist das mit Mehraufwand verbunden. Der Ausbau muss spätestens dann stoppen, wenn die ganze Landschaft vollgebaut und untertunnelt ist. Oder früher, wenn uns jene Ressource ausgeht, die am rarsten ist. Vielleicht der Boden, vielleicht die gesunde Luft, vielleicht das Öl. Auch hier gibt es Grenzen des Wachstums. Dieser Gedanke ist keineswegs überholt, sondern aktueller denn je.
Wachstum, ganz konkret und real, ohne philosophische und hoffnungsvolle Wenn und Aber, kann also nicht nachhaltig sein. Die Wachstumspolitik der Landesregierung ist also verfassungswidrig wegen der Unvereinbarkeit von Wachstum und Nachhaltigkeit.
Man sollte nun nicht meinen, Nullwachstum wäre die Lösung. Denn auch die heutige Höhe des Materialverbrauchs führt unweigerlich zur Erschöpfung der Ressourcen. Bei den flüssigen fossilen Energiequellen ist das Ende absehbar, voraussichtlich bereits innert zweier Generationen.
Auch die Technik ist keine Lösung. Erstens weil auch Technik Ressourcen verbraucht. Erlösung durch Technik wäre planetär gesehen, ähnlich wie der Baron von Münchhausen sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zog. Zweitens kann man heutige Probleme nur lösen mit den Mitteln, die uns heute zu Verfügung stehen und nicht mit jenen, die man vielleicht oder vielleicht auch nicht noch erfindet.
Eine vernünftige Politik wäre die einer planmässigen Umstrukturierung der wirtschaftlichen Strukturen, welche lebenswichtige Ressourcen zu schonen hilft. Eine lokalisierte Wirtschaft mit einem Minimum an Transporte, mit tiefem Materialdurchsatz und niedrigem Energieverbrauch. Arbeitslosigkeit wird automatisch ein Fremdwort werden, wegen der vermehrten nichtmaschinellen Arbeit.
Herr Bundesrat, ich bin mir bewusst, dass obige Tatsachen Ihrem Verständnis aus der Disziplin der Wirtschaftwissenschaften widersprechen. Wie sähe das aus, wenn Ihr Geburtsort immer weiterwachsen würde? Bei der Visualisierung könnte die beiliegende Wachstumstabelle helfen. Bei der allgemein angestrebten Wachstumsrate von drei Prozent wäre Fribourg in nur einer Generation 2,1 mal grösser.
Ich teile Ihre Meinung, dass die Verantwortung bei allen liegt. Aber die MeinungsführerInnen im Lande tragen den Löwenanteil, und da stehen Sie an vorderster Stelle.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bin gespannt auf Ihre Stellungnahme.
Mit freundlichen Grüssen,
Helmut E. Lubbers
cc: Webseite www.ecoglobe.ch/politics/d/deis5328.htm
Beilagen: erwähnt
Wachstumstafel
Ansprache vom 1.1.2004
ecoglobe Brief vom 14.1.2004
Antwort vom 17.2.2004 vomHerrn Bundesrat Deiss
ecoglobe Antwort an Herrn Bundesrat Deiss
Eine alternative Antwort an Herrn Bundesrat Deiss
Lettre du 8.4.05 du seco
Wachstumsdikussion
ecoglobe Nachhaltigkeit - pages durablité
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