zurück [ceteris paribus] previous ecostory 01/2015   nächste D home
Jean ziegler: "Es fehlt nur noch ein Funke"
Wir reproduzieren einen hochaktuellen Beitrag von Jean Ziegler, weil auch wegen den "Ich bin Charlie"-Ereignissen sehr aktuell. Der Unmut und die Radikalisierungen - nicht nur in den Einwanderstadtvierteln - sind auch Ausdruck der scheinbaren Aussichtslosigkeit der jungen Leute. Keine Jobs, keine Zukunft, keine soziale Anerkennung.

Es fehlt nur noch ein Funke

SPIEGEL-Gespräch Der Menschenrechtler Jean Ziegler über den Skiunfall Michael Schumachers und die Frage, warum globale Tragödien wie Ebola so wenig Aufmerksamkeit finden.

Fahrer von Che Guevara, Professor für Soziologie, Konzernschreck: Ziegler, 80, hat im Leben wenig ausgelassen. Heute sitzt der Schweizer als Vize im Beratenden Ausschuss des UNO-Menschenrechtsrats, im März erscheint sein neues Buch "Ändere die Welt!" (Verlag C. Bertelsmann).

SPIEGEL: Herr Ziegler, wurden Sie im vorigen Jahr auch dazu aufgefordert, sich einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf zu stülpen?

Ziegler: Ja, aber ich habe das nicht gemacht.

SPIEGEL: Warum nicht?

Ziegler: ln der modernen Medienwelt wird alles zum Gag, zur Ware. Als hätten wir keine ernsthaften Probleme. lm Süden des Planeten wachsen die Leichenberge. Fast eine Milliarde Menschen ist unterernährt. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Oder nehmen Sie die aktuell 32 "Konflikte niedriger Intensität", wie es in der Diplomatensprache so schön zynisch heißt. Da sterben auch Zehntausende Menschen, ohne dass es irgendjemanden interessiert.

SPIEGEL: Mit der sogenannten Ice Bucket Challenge wurden immerhin Millionen Menschen für eine seltene, tödliche Nervenkrankheit sensibilisiert. Wieso ist das ein Gag?

Ziegler: Schön. Aber ist das unser wichtigstes Problem? Wir leben in einer perversen Zeit. 2013 haben die 500 größten global en Konzerne mehr als die Halfte des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert. Diese Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals haben eine Macht, wie sie Kaiser und Papste niemals besaßen.

SPIEGEL: Sie bezeichnen Manager als Halunken, Räuber oder gar Mörder. Wem wird durch Ihre Beschimpfungen geholfen?

Ziegler: Es geht mir nicht darum, einzelne Personen anzuprangern. Das System muss bekämpft werden. Allein die Spekulationen von Finanzinstituten wie der Deutschen Bank auf Grundnahrungsmittel töten indirekt Millionen Menschen. Unsere Weltordnung ist in jeder Hinsicht inakzeptabel.

SPIEGEL: Die Mehrheit der Bürger, zumindest im Westen, scheint damit ganz gut zu leben.

Ziegler: Wir haben uns angewöhnt, die Logik der Märkte als Naturgesetz zu betrachten. In Wahrheit ist es ein Gesetz des Dschungels. Und der breitet sich aus, inzwischen sogar bis nach Europa. Fast jedes fünfte Kind in Spanien ist laut Unicef unterernährt. Wir müssen uns gegen das kannibalische Wirtschaftssystem erheben, bevor die Demokratie daran zugrunde geht.

SPIEGEL: Die Medien, auch der SPIEGEL, informierten umfassend über den Skiunfall Michael Schumachers. Mit der Berichterstattung über Ebola begannen viele dagegen spät, sie scheint auch schon wieder abzuebben. Warum?

Ziegler: Die Bürger sind durch die Wirtschaftskrisen, verursacht durch den Banken-Banditismus um 2008 und 2009, verunsichert. Sie sind vollends mit sich und ihren eigenen Verlustängsten beschäftigt. Ich möchte das Mitgefühl für Michael Schumacher nicht kleinreden. Aber ich halte die Hysterie nach seinem Unfall oder auch die "Ice Bucket Challenge" für eine Form von Eskapismus. ln solchen Momenten können die Menschen für einen Moment Empathie spüren, ohne wirklich etwas zu riskieren, ohne in ihrem Weltbild erschüttert zu werden.

SPIEGEL: Sie zitieren in Ihrem Buch "Wir lassen sie verhungern" die argentinische Sängerin Mercedes Sosa: "Nur eines erbitte ich von Gott, dass der Schmerz mich nicht gleichgültig lasse." Halten Sie die Menschen für gleichgültig?

Ziegler: Nein, die Menschen sind sensibel. Sie sind zu Mitgefühl fähig. Niemand, der die Bilder von Flüchtlingen sieht, die im Mittelmeer ertrinken oder in der Sahara verdursten, bleibt davon unberührt. Aber viele empfinden Ohnmacht.

SPIEGEL: Vielleicht ja zu Recht.

Ziegler: Nein. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Die Ideologiefabriken des modernen Kapitalismus, die PR-Zentralen der Konzerne, die rechtskonservativen Medien haben uns eingeredet, wir müssten das Diktat der Märkte als Sachzwang akzeptieren. Aber das ist falsch. Wir können uns wehren. Ich spreche nicht von den Entrechteten im globalen Süden, von Kindern mit Würmern im Bauch, von Syrern, die vor dem Giftgas ihres Diktators fliehen. Ich spreche von Bürgern im demokratischen Europa, in Deutschland, der lebendigsten Demokratie des Kontinents. Ich spreche von uns.

SPIEGEL: Finanzinstitute handeln mit hochkomplexen Produkten, dem Treiben des US-Nachrichtendienstes NSA liegen schwierige mathematische Berechnungen zugrunde. Haben Sie kein Verständnis für Menschen, die sagen: Mir ist das alles zu kompliziert, ich steige da nicht mehr durch?

Ziegler: Dieses Argument ist eine Ausrede. Wir wissen doch längst um die Verbrechen der Finanzoligarchie. Wir wissen, dass Schweizer Banken Blutgeld von Diktatoren aus aller Welt entgegennehmen. Wir wissen, dass Großkonzerne in Afrika und Lateinamerika Menschen brutal ausbeuten. Und wir wissen, dass die Täter überwiegend in demokratischen Staaten zu Hause sind. Die Deutsche Bank sitzt in Frankfurt am Main, Monsanto in St. Louis. ln diesen Staaten gibt die Verfassung dem Bürger die Waffen in die Hand, um sämtliche mörderischen Mechanismen, von den Hungermassakern bis zur Flüchtlingsabwehr, zu brechen. Es gibt keine Praxis, die nicht durch organisierten, bewussten, dezidierten Widerstand der Bürger abgeschafft werden könnte. Und das schon morgen.

SPIEGEL: Von welchen Waffen sprechen Sie?

Ziegler: Die Bürger konnen eine Regierung, die eine unmoralische und unsolidarische Politik betreibt, abwahlen.

SPIEGEL: Das geht alle vier Jahre.

Ziegler: Die Deutschen, die Schweizer, die Franzosen sind mit allen konstitutionellen Rechten des Widerstands ausgestattet: Massendemonstrationen, Generalstreik, Bürgerinitiativen.

SPIEGEL: Ist Gewalt für Sie eine Option?

Ziegler: Selbstverständlich. Che Guevara hat gesagt: Der Guerillero ist ein bewaffneter Lehrer. Wenn der Gegner mit Gewalt und Repression regiert, wenn ich keine Möglichkeit habe, zu atmen und solidarische Beziehungen zu etablieren, dann muss ich mir meine Freiheit notfalls mit Gewalt erkämpfen.

SPIEGEL: Und Sie glauben, dass auch im Westen dieser Punkt erreicht ist?

Ziegler: Nein, in Westeuropa und auch in Nordamerika existieren noch immer genügend Freiräume. Wir tragen die demokratischen Waffen in unserer Hand. Es fehlt nur noch ein Funke, der das Feuer des Widerstands entfacht.

SPIEGEL: Das kann aber auch nach hinten losgehen, wie gerade das Beispiel Pegida in Dresden zeigt Da demonstrieren Zehntausende nicht gegen Mächtige, sondern gegen Schwächere.

Ziegler: Das ist eine perverse Verdrehung der Verhältnisse. Aber das wird nicht anhalten. Der Aufstand des Gewissens wird kommen.

SPIEGEL: Sie sind im Berner Oberland in bürgerlichen Verhätnissen aufgewachsen. Kein Milieu, aus dem üblicherweise Revolutionäre hervorgehen.

Ziegler: Mein Vater war Gerichtspräsident. Ich sollte seinem Beispiel folgen. Als Jugendlicher bin ich mit meinem glitzernden Velo zur Schule gefahren. Auf dem Rückweg habe ich die sogenannten Verding-Kinder gesehen.

SPIEGEL: Das müssen Sie erklären.

Ziegler: Arme Familien haben ihre Söhne und Töchter damals an reiche Bauern verkauft. Die Kinder wurden ausgebeutet und oft misshandelt. Ich sah sie auf dem Viehmarkt, wo sie Tiere hüteten, mit Löchern in den Socken, während die Großbauern in den umliegenden Gaststätten es sich bei Sauerkraut und Bier haben gut gehen lassen. Ich fragte meinen Vater, wie das möglich sei, und er antwortete als guter Calvinist: Da kannst du nichts ändern, Gott hat es so gewollt. Da bin ich in die Luft gegangen. Ich sah mein Leben vor mir als reine Reproduktion bestehender Verhältnisse. Und bin weggerannt.

SPIEGEL: ln der Luft sind Sie offenbar bis heute geblieben.

Ziegler: Mit gutem Grund. Ich war als junger Mann ein kleiner UNO-Beamter im Kongo. Damals, 1961, nach der Ermordung Lumumbas, versank das Land im Chaos. Die UNO hatte die Zivilverwaltung übernommen. Wir waren im letzten funktionierenden Hotel in Kinshasa untergebracht, umgeben von Stacheldraht, bewacht von Blauhelmen. Jeden Abend haben die indischen Köche Essensreste über den Zaun geworfen. Die hungernden Kinder und Frauen kamen, sie kletterten auf den Stacheldrahtzaun, um das Essen herunterzuklauben. Die Blauhelme haben sie mit Gewehrkolben vertrieben. Damals habe ich mir geschworen, in meinem Leben nie wieder auf der Seite der Henker zu stehen. Ich bin ein unglaublich privilegierter Mensch. Es ist meine mindeste Pflicht, den Erniedrigten zu helfen.

SPIEGEl: 2014 war ein Jahr mit ungewöhnlichen und ungewöhnlich vielen Krisen: Syrien, Ukraine, Ebola. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ziegler: Ich beobachte var allem den Zerfall der multilateralen Diplomatie mit Sorge. 2015 wird die UNO 70 lahre alt. Aber die internationale Gemeinschaft gibt es nicht mehr.

SPIEGEL: Gab es sie je?

Ziegler: Zumindest mehr als heute. Die Charta der UNO, die Kriege und Elend auf ewige Zeit bannen sollte, hat drei SäuIen: kollektive Sicherheit, die Wahrung der Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit. Alle drei Säulen sind beschädigt. Sicherheit herrscht nirgends, die soziale Gerechtigkeit ist ruiniert, das Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden wird größer. Und was die Menschenrechte betrifft: Laut Amnesty wird in 112 Staaten der Welt gefoltert. Die USA eingeschlossen, wie der Senatsreport zu den CIA-Praktiken gerade bestätigt hat. Präsident Bush hat wiederholt gegen die Anti-Folter-Konvention verstoßen, um ungestört seinen Krieg gegen Terrorverdächtige führen zu können.

SPIEGEL: Warum tut sich die UNO so schwer, ihre eigenen Prinzipien umzusetzen?

Ziegler: Ihre Organisationsstruktur ist veraltet. Vor allem das Vetorecht für die fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat verhindert wichtige Entscheidungen. Sie können jeden beliebigen Konflikt betrachten. ln Syrien setzt Assad Giftgas gegen seine Bürger ein. Aber die UNO kann sich weder auf einen Blauhelm-Einsatz verständigen noch auf eine Flugverbotszone, da Russland jede Intervention blockiert. ln Darfur, wo das islamistische sudanesische Regime seit Jahren einen mörderischen Krieg führt, ist die UNO durch die Veto-Macht Chinas gelähmt - weil China an Erdöl aus dem Sudan interessiert ist. Und in Gaza lehnen die USA eine Untersuchung der Kriegsverbrechen Israels durch den UNO-Menschenrechtsrat vehement ab.

SPIEGEL: Wieso hält die Weltgemeinschaft dann an dem Vetorecht fest?

Ziegler: Die UNO wurde 1945 in einem radikaldemokratischen Verfahren' gegründet: ein Land, eine Stimme. Das gilt fur Vanuatu mit seinen rund 250000 Einwohnern wie fur China. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wussten aber, dass schlimmste Monster, wie Hitler, auf demokratischem Weg an die Macht gelangt waren. Also beschlossen sie: Wir brauchen in der UNO eine Notbremse. Das Problem ist: Sie wurde und wird aufs Übelste missbraucht. Die Weltfriedensordnung ist eine Ruine.

SPIEGEL: Und deswegen müssen andere es richten?

Ziegler: Wir haben als Intellektuelle die Aufgabe, die Menschen davon zu überzeugen, dass Widerstand nôtig ist. Eine andere Welt ist möglich.

SPIEGEL: Das sagen Sie so einfach.

Ziegler: Nehmen wir noch einmal Afrika: Dort sind 37 von 54 Staaten Agrarstaaten. Wir sprechen von einem unglaublich reichen Kontinent, der allein den Hunger aus der Welt schaffen könnte, wenn es dort minimale Investitionen in die Landwirtschaft gäbe. ln der Sahelzone kommen auf jeden Hektar Boden in normalen Zeiten 600 Kilogramm Getreide, in der westlichen Welt sind es 10 000 Kilogramm. Aber nicht, weil der Bauer aus dem Niger so viel weniger kompetent wäre als sein Kollege aus Baden-Württemberg, sondern weil der Staat den Württemberger fördert. Der nigerische Bauer erhalt nichts, weil sein Staat verschuldet ist. Wenn der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble zur nächsten Weltwährungskonferenz nach Washington fliegt, könnte er sich für die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder einsetzen. Wir alle könnten darauf drängen, dass er ausnahmsweise nicht fur die Gläubigerbanken in Frankfurt stimmt, sondern für die sterbenden Kinder in der Sahelzone.

SPIEGEL: An dem Vorsatz "Yes we can" sind schon andere gescheitert.

Ziegler: Würden wir Ihren Gedanken zu Ende denken, hieße das: Empathie und Mitleid existieren nicht mehr. Es gibt nichts außer Konsum. Dort, wo einmal kritisches Bewusstsein war, herrscht jetzt Egoismus. Das wäre verheerend.

SPIEGEL: ln Deutschland meinen viele, das Land solle nicht mehr, sondern weniger Flüchtlinge aufnehmen.

Ziegler: Die europäische Asylpolitik ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die EU schottet den Kontinent ab, sie nimmt wissentlich den Tod vieler Menschen in Kauf. Europa hat seine Ausgaben fur die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer drastisch gekürzt. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière rechtfertigt diese Politik als Mittel der Abschreckung. Was für eine zynische, menschenverachtende Weltsicht. Aber diese Haltung kann und wird nicht von Dauer sein.

SPIEGEL: Warum sind Sie so optimistisch?

Ziegler: Ich glaube an die sanfte Macht der Vernunft. Die Sklaverei ist ein uraltes Übel, aber sie wurde letztlich weitgehend abgeschafft. Neue zivilgesellschaftliche Bewegungen entstehen: Attac, Occupy.

SPIEGEL: Occupy ist implodiert.

Ziegler: Trotzdem haben diese Bewegungen das Bewusstsein der Menschen verandert. Sie haben das radikale Konkurrenzdenken der neoliberalen Kaste erschüttert. Hunderttausende Kleinbauern, Fischer, Hirten haben sich zur weltweiten Bewegung "Via Campesina" zusammengeschlossen. Sie stehen auf gegen den Landraub der Großkonzerne und Hedgefonds. Ohne Greenpeace ware Deutschland nicht aus der Atomkraft ausgestiegen. Sprechen Sie Spanisch?

SPIEGEL: Geht so.

Ziegler: Der kubanische Poet José Marti schrieb: "La verdad, una vez despierta, no vuelve a dormirse." Die Wahrheit, die einmal erwacht ist, kehrt nie mehr zum Schlaf zurück. Sie kann verschüttet werden, sie kann bekämpft werden, aber sie schläft nicht wieder ein. Und bitte sagen Sie jetzt nicht, ich sei Idealist.

SPIEGEL: Was denn sonst?

Ziegler: Das ist der schlimmste Vorwurf, den man mir machen kann. Ich vertraue lediglich auf die menschliche Vernunft.

SPIEGEL: Sie reisen seit Jahrzehnten als UNO-Gesandter um die Welt, schreiben Bücher, halten Vorträge. Werden Sie eigentlich niemals müde?

Ziegler: Ich gehe gern an das Grab von Bertolt Brecht in Berlin. Brecht wurde einmal gefragt, was das Schreiben, der Gang ins Exil, der lebenslange Kampf gegen Unterdrücker genutzt hat. Wissen Sie, was er geantwortet hat? "Ohne uns hätten sie es leichter gehabt."

SPIEGEL: Herr Ziegler, wir danken Ihnen für dieses Gesprach.

* Mit den Redakteuren Maximilian Popp und Jörg Schindler in Zieglers Haus bei Genf.

Copyright: DER SPIEGEL, Wiedergabe ohne Gewinnabsicht, nur für Diskussionszwecke.
Startseite | Sitemap | ecostory | Motivation | Energie | Szenarios | Rückmeldung D
ecoglobe ecoglobe.org & ecoglobe.org.nz for realistic answers 5109-5115
top