ecostory - 102/2007
Kassandra (d)    
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Kassandra

[Summary: Cassandra warned the people of Troja - in vain. The following excerpts are from the account by Christa Wolf.
How can we learn from the past?
Résumé: Cassandre avertit le peuple de Troie - en vain. Les extraits ci-dessous sont de l'histoire racontée par Christa Wolf.
Comment pouvons-nous apprendre du passé?
]
    Wer wird, und wann die Sprache wiederfinden?

    Einer, dem ein Schmerz den Schädel spaltet, wird es sein. Und bis dahin, bis zu ihm hin, nur das Gebrüll und der Befehl und das Gewinsel und das Jawohl der Gehorchenden.
    [...]
    Mit Blindheit geschlagen, ja. Alles, was sie wissen müssen, wird sich vor ihren Augen abspielen, und sie werden nichts sehen. So ist es eben.
... schreibt Christa Wolf in ihrer Nacherzählung (S.206)1 vom Fall der Stadt Troja. Kassandra sagte den Untergang der Stadt voraus, aber niemand wollte hören. Gegen ihren Einspruch holten die Trojaner das Pferd der Griechen in ihre Stadt.
    Dachte ich ans Sterben? War ich nicht triumpfgeschwollen wie wir alle?
    Wie schnell und gründlich man vergißt.
    [...]
    Vergessen will ich den zerrütteten, verwahrlosten Vater nicht. Doch auch den König nicht, den ich als Kind über alle Menschen liebte. Der es aber nicht ganz genau nahm mit der Wirklichkeit. Der in Phantasiewelten leben konnte; nicht ganz scharf die Bedingungen ins Auge fasste, die seinen Staat zusammenhielten, auch die nicht, die ihn bedrohten. (S.212)

    Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blaß, auch wütend, ich kenn' es von mir selbst. Und daß wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob man's weiß. (S.213)

    Was ich lebend ich nenne? Was nenne ich lebendig. Das Schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst ändern. Worte sagte Panthoos, da war er noch ein Widerpart für mich. Nichts als Worte, Kassandra. Der Mensch ändert nichts, warum ausgerechnet sich selbst, warum ausgerechnet das Bild von sich? (S.220)

    [...] ich blickte auf die erregten aufgerissenen Gesichter der Menschen, die das Opfer und den Priester dicht umstanden und auf ein Wort warteten wie auf Speise und Trank. Lahme konventionelle Verlautbarungen gab der Bruder ab, über Sonne und Regen, Gedeihen und Mißlingen der Ernte, Vieh- und Kinderaufzucht. Wie anders hätte ich reden, mit welch andrer Tonart dreinfahren wollen; über ganz anderes hätte ich sie belehren mögen, die Ahnungslosen, Genügsamen; nämlich... Nämlich? Worüber denn? Panthoos, der mich in jener Zeit im Auge behielt, fragte mich rundheraus. Immer seine kratzenden Fragen. Was sonst als Wetter, Bodenfruchtbarkeit, Viehseuchen, Krankheiten - wollte ich die Leute aus dem Kreis herausreißen, in dem sie eingeflochten seien? In dem sie sich wohl fühlten, nach nichts anderem Ausschau hielten? Darauf ich, hochfahrend: Weil sie nichts anderes kennen. Weil man ihnen nur diese Art Fragen läßt. Wer - man? Die Götter? Die Verhältnisse? Der König? Und wer bist du; ihnen andre Fragen aufzudrängen? Laß alles, wie es ist, Kassandra, ich rate dir gut. (S.229)

    Wer lebt, wird sehn. Mir kommt der Gedanke, insgeheim verfolge ich die Geschichte meiner Angst. Oder, richtiger, die Geschichte ihrer Entzügelung, noch genauer: ihrer Befreiung. Ja, tatsächlich, auch Angst kann befreit werden, und dabei zeigt sich, sie gehört mit allem und allen Unterdrückten zusammen. Die Tochter des Königs hat keine Angst, denn Angst ist Schwäche, und gegen Schwäche hilft ein eisernes Training. Die Wahnsinnige hat Angst, sie ist wahnsinnig vor Angst. Die Gefangene soll Angst haben. Die Freie lernt es, ihre unwichtigen Ängste abzutun und die eine grosse wichtige Angst nicht zu fürchten, weil sie nicht mehr zu stolz ist, sie mit anderen zu teilen. - Formeln, nun ja. (S.235)

    Um die unheimliche Wirklichkeit hinter der glanzvollen Fassade nicht sehn zu müssen, veränderten wir flugs unsre Fehlurteile. [...]
    Warum werden gerade diejenigen Wünsche, die sich auf Irrtümern gründen, in uns übermächtig? (S.237)
    [In order to not having to see the sinister reality behind the shining fassade, we quickly changed our misjudgements. ...
    Why do precisely those wishes overwhelm us that are founded upon errors?]
    [Afin de ne pas devoir voir la réalité effrayante cachée par la façade brillante, nous changeâmes nos mal-jugés. ...
    Pourquoi deviennent exactement ces désirs trop puissants, qui sont basés sur des erreurs ? ]


    Ein Ring des Schweigens legte sich um mich. Der Palast, der heimatlichste Ort, zog sich von mir zurück, die geliebten Innenhöfe verstummten mir. Ich war mit meinem Recht allein. (S.238-239)

    Das habe ich lange nicht begriffen: daß nicht alle sehen konnten, was ich sah. Daß sie die nackte bedeutungslose Gestalt der Ereignisse nicht wahrnahmen. Ich dachte, sie hielten mich zum Narren. Aber sie glaubten sich ja. Das muss einen Sinn haben. Wenn wir Ameisen wäre: Das ganze blinde Volk stürzt sich in den Graben, ertränkt sich, bildet die Brücke für die wenigen Überlebenden, die der Kern des neuen Volkes sind. Ameisengleich gehn wir in jedes Feuer. Jedes Wasser. Jeden Strom von Blut. Nur um nicht sehn zu müssen. Was denn? Uns. (S.243)
    Das Troja, das mir vor Augen steht, ist - viel eher als eine rückgewandte Beschreibung - ein Modell für eine Art von Utopie. (S.108)

Photo: Christa Wolf 1989

"This somber race cannot be helped; one only had to become mostly silent, in order to avoid being taken for mad, [like Cassandra], when one predicted what was already standing before the entrance. " - Goethe
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1 Seitenzahlen: "Kassandra - Vier Vorlesungen, ein Erzählung", 1985, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.
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