Leitartikel
Die politische Elite des Westens redet viel über Ungleichheit, tut aber kaum etwas dagegen.
Es gibt ein neues Ritual auf der Welt, bei dem man nicht weiß, wie man es nennen soll: scheinheilig? Dreist? Zynisch?
Jedes Jahr im Januar meldet die Entwicklungsagentur Oxfam, dass eine kleiner werdende Zahl Superreicher über einen größeren Teil des weltweiten Vermögens verfügt. Aktuell sollen es 62 Milliardäre und Multimilliardäre sein, die rund die Hälfte des weltweiten Kapitals besitzen.
Anschließend treffen sich die Reichen und Mächtigen regelmäßig zu ihrem glamourösen Gipfel im schweizerischen Davos und beklagen, dass sie wieder ein Stück reicher und mächtiger geworden sind. Um dann, wenn sie ein paar Tage später in ihre Chefbüros und Regierungszentralen zurückkehren, bedauernd festzustellen, dass sich dagegen nichts machen lässt. Weil sich die Staaten nicht auf gemeinsame Maßnahmen einigen können, schon gar nicht auf eine globale Reichensteuer. Ende der Debatte. Wiedervorlage im nächsten Jahr.
Der bigotte Schönsprech von Davos ist mehr als ein Ärgernis. Er ist eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie. Die Mischung aus Empörungsrhetorik und Tatenlosigkeit lässt das Misstrauen gegenüber der Politik wachsen. Sie trägt auch dazu bei, dass das Problem noch immer unterschätzt wird. Dabei droht die Kluft zwischen Arm und Reich in der industrialisierten Welt längst wieder jenes obszöne Ausmaß zu erreichen wie in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als der US-Romancier F. Scott Fitzgerald seinen "Großen Gatsby" schrieb.
Der Befund der Statistiker ist eindeutig: Seit einem Vierteljahrhundert kommt der Wohlstandszuwachs in den Industrienationen vor allem den reichsten zehn Prozent zugute. Die Verdienste der Mittelschicht stagnieren seit Jahren. Und wer das Pech hat, sich als ungelernter Leih-, Teilzeit- oder Hilfsarbeiter verdingen zu müssen, erlebt in vielen Ländern, wie sein Einkommen schrumpft. "Wenn es einen Klassenkampf gibt", spottet der US-amerikanische Graßinvestor Warren Buffett, "dann ist meine Klasse der Gewinner."
Die Aussicht auf sozialen Aufstieg ist geschwunden. In den Nachkriegsjahrzehnten war es in vielen Ländern des Westens Programm, Arbeiterkindern den Weg an die Universitäten und in Managerpositionen zu ebnen. Heute hängt die Bildung wieder stärker denn je vom Elternhaus ab. Zugleich gelingt es den Regierungen immer weniger, die ungleiche Verteilung durch Steuern und Sozialtransfers zu korrigieren. Der Einfluss des großen Geldes auf die Politik nimmt dagegen zu. In den USA stimmen sich die Lobbyisten der Rüstungs-, Pharma- oder Ölindustrie die großen Parteien mit millionenschweren Wahlkampfspenden gewogen. In der Schweiz versucht der Rechtspopulist und Milliardär Christoph Blocher mit teuren Kampagnen den Ausgang von Volksabstimmungen zu beeinflussen. Man muss kein Marxist sein, um die Konzentration von Kapital und Macht auf beiden Seiten des Atlantiks als "neofeudal" zu bezeichnen.
Viele westliche Politiker sehen sich außerstande, etwas gegen die wachsende Ungleichheit in ihren Gesellschaften zu unternehmen. Sie fühlen sich getrieben von anonymen Kräften wie der digitalen Revolution oder der Globalisierung, gegen die nationalstaatliche Politik angeblich nichts ausrichten kann.
Doch das ist falsch, wie zahlreiche Studien von Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der OECD ausweisen. Man muss ja nicht gleich eine weltweite Vermögenssteuer einführen. Vielfach würde es schon genügen, wenn die Regierungen die Abgaben eintrieben, die ihnen zustehen.
Manche Finanzbehörden jedoch behandeln selbst notorische Steuerhinterzieher mit Nachsicht (siehe Seite 34). Und viele Politiker treten bei diesem Thema als gespaltene Persönlichkeiten auf. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beispielsweise: In Brüssel gibt er gern den wortgewaltigen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Daheim in Luxemburg dagegen ließen seine Beamten kein Schlupfloch ungenutzt, um gemeinsam mit der Industrie Europas Steuerregeln zu umgehen und die Lasten der Konzerne zu drücken.
Wer im Kampf gegen Ungleichheit erfolgreich sein will, muss auch die Rahmenbedingungen für untere Lohngruppen verbessern und ihnen Aufstiegschancen bieten. Er muss mehr Geld für Kitas und Ganztagsschulen bereitstellen und Leiharbeit und Teilzeitjobs besser regulieren. Nötig ist zudem eine Steuer- und Sozialpolitik, die vor allem Niedrigverdienern hilft. Die derzeitige Bundesregierung verfolgt vielfach das genau entgegengesetzte Programm, etwa bei der Rente mit 63, die vor allem gut ausgebildeten männlichen Besserverdienern nutzt.
Michael Sauga, DER SPIEGEL 4/2016 Seite 6 Englisch Übersetzung: ecoglobe.ch
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Editorial [translation ecoglobe]
Western political elites talk a lot about unequality. But they're doing hardly anything against it.
There's a new ritual in the world, one of which one doesn't know how to call it: Hypocrisy? Audacity? Cynicism?
In January each year the development organisation Oxfam reports that a decreasing number of superrich people has the disposal of an increasing portion of global wealth. Presently 62 Billionaires and multibillionares are reported to possess half of the worldwide capital.
In the following the rich and the powerful regularly meet at their glamorous summit in the Swiss village of Davos, where they complain that that they've again become richer and more prowerful. A fews days later they return to their executive offices and government centres - to conclude that regretfully nothing can be done against this development. Because states cannot agree on common measures, and not at all on a global wealth tax. End of the Debate. Back on the agenda: next year.
The hypocritical nice-talk of Davos is more than a nuisance.
It's a danger to social cohesion and democracy. The mixture of indignation rhetoric and inactivity is increasing the distrust towards politics. It also contributes to a continuous underestimation of the problem.
Yet the wealth gap between rich and poor could soon be at the same obscene size as in the twenties of the last century, when the US author F. Scott Fitzgerald wrote his "Great Gatsby".
The findings of the statisticians leave no doubt: since 25 years the increases in wealth in the industrialised countries are mainly benefiting the richest ten per cent. The incomes of the middle class have been stagnating for years. And who has bad luck and has to sell himself as an unqualified subcontracted laborer or in a parttime or auxiliary job, is often seeing his/her inclome decrease. "If there's a class struggle, than my class is the winner," mocked the US-Amerian mega-investor Warren Buffett.
The perspective for social ascent has disappeared. In the post-WWII decennia the programme in many western countries was to level the road for workers' kids to a university and into a managerial position. Nowadays education again depends more than ever before on the parents' situation. At the same time governments less and less manage to correct inequality by means of taxes and social transfers.
On the other hand the influence of big money on politics is increasing. In the USA the Lobbyists of the arms, pharmaceutics and oil industries are supporting the big parties with millions of election grants. In Switzerland the right-wing populist and billionaire Christoph Blocher tries to influence the results of popular votations by expensive campaigns. One doesn't have to be a Marxist to designate the concentration of power and capital on both sides of the Atlantic as "neo-feudal".
Many western politicians feel incapable to do something against the increasing inequality in their countries. They feel driven by anonymous forces like the digital revolution, or by globalisation, against which, they claim, the policies of nation states are powerless.
But this is incorrect, as demonstrated by many studies of international ornagisations, like IMF or OECD. Of course its' not neccessary to start implimenting an international wealth tax. Often it would already suffice if states collect the duties that they have a right to.
Many a finance authority, however, even treat notorious tax defraudents with indulgence (see page 34). And many politicians act like split personalities regarding this subject. For example the president of the EU Commission Jean-Claude Juncker: In Brussels he likes playing the vociferous combatant for social justice. At home in Luxemburg, on the contrary, his officers together with industry didn't leave one loophole unutilised to circumvent Europe's tax rules, and reduce the duties of the corporations.
Who wants to be successful in the fight against inequality also has to ameliorate the societal conditions of the low-income groups and offer chances to ascent. More money for toddler daycare centres and for full daytime schools must be made available. Subcontracting and parttime jobs must be better regulated. Equally needed are tax and social policies that support low-income earners in the first place. The present German government often applies the exact opposite programme, for example with the pension-at-63 scheme, which primarily serves the well-educated, better-paid males. Michael Sauga, Der Spiegel 4/2016, page 6
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